Viele Menschen in Griechenland fragen sich dieser Tage, warum die Verhandlungen zwischen ihrer Regierung und den Brüsseler Partnern vergangene Woche gescheitert sind. Die Schuld daran sehen sie nicht allein auf griechischer Seite. Nun herrscht große Unsicherheit bei den Bürgern zwischen Thessaloniki und Athen. Niemand kann auch nur annähernd vorhersagen, wie das Ergebnis des Referendums am Sonntag ausfallen wird.
»Wir Juden in Griechenland haben dieselben Schwierigkeiten zu meistern wie alle anderen Bürger auch«, betont Moses Constantinis, Präsident des Zentralrats der Juden in Griechenland, wohl wissend, dass sich das Land auf einem schwierigen Pfad bewegt. Deshalb sei das Gebot der Stunde: Ruhe und Umsicht zu bewahren, damit Unruhe und Instabilität in ganz Europa vermieden werden, so Constantinis. »Die griechischen Juden erwarten aber auch Solidarität von Europa.« Man könne und dürfe Griechenland in dieser schweren Stunde nicht allein lassen.
Viele meinen, es sei falsch, Griechenland so radikal abzuurteilen, wie die deutschen Medien es derzeit tun. Gern kontert man entsprechend scharf zurück: »Griechenland wird niemals ein zweites Deutschland werden – und Gott sei Dank, dass das so ist.« Diese Worte hört man in diesen Tagen häufig auch von Mitgliedern der jüdischen Gemeinden.
Die Entscheidung, wie man beim Referendum abstimmen soll, macht das jedoch nicht leichter. Jetzt geht es nicht allein um das Verhältnis zwischen Griechenland und Deutschland, sondern auch um die Zukunft des eigenen Landes.
Hetzkampagne Seit Tagen führt die Opposition eine Hetzkampagne gegen die Regierung. Rechte Politiker treten in den Talkshows des Abendprogramms auf. Ausgerechnet jene, die dem rechtsradikalen Flügel der Nea Dimokratia angehören und vor einigen Jahren ihre Karriere in rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Parteien begonnen hatten, wittern nun erneut ihre Stunde und schimpfen unermüdlich auf die Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras. Sie entwerfen Horrorszenarien und finden Worte, in denen sich die Ängste der griechischen Bevölkerung widerspiegeln. So heißt es immer wieder: »Wenn sich Tsipras nicht mit Brüssel einigt, ist es aus mit dem Euro. Die Banken bleiben geschlossen. Wir werden kein Benzin mehr haben, und die Supermarktregale sind dann leer.«
Griechenlands Juden fühlen sich von solchen Beschreibungen bedrängt. Denn oft ist die Frage nach den Schuldigen nicht weit, und so manchem Rechtsextremen liegt die Antwort bereits auf der Zunge. Juden kennen diese Mechanismen, denn seit Jahrtausenden werden sie zu Sündenböcken gemacht.
»Die drastischen Sparmaßnahmen können nicht mehr hingenommen werden, und die Rigorosität der Verhandlungen in Brüssel ist nicht zu billigen«, sagen Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Athen.
Vor allem, nachdem Ministerpräsident Alexis Tsipras am Montag in einem Fernsehinterview zu verstehen gegeben hat, dass er nicht ein »Ministerpräsident für alle Zeiten« sei, hat er viel Vertrauen zurückgewonnen. Die griechische Regierung habe sich gut geschlagen, Charakter bewiesen und wolle sich nicht den Forderungen Europas beugen, hört man immer wieder, auch von Juden.
Lauer Moses Elisaf, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Ioannina, sagt, für das Scheitern der Brüsseler Verhandlungen sei auch die griechische Regierung verantwortlich. Mit der Schließung der Banken habe sie das Land in eine prekäre Lage gebracht. »Die Zukunft Griechenlands ist keineswegs rosig, denn es gibt keine würdigen Institutionen«, klagt Elisaf. Er meint damit das Parlament und die Parteien, die Justiz und die griechisch-orthodoxe Kirche. Seine große Befürchtung: Durch einen Fall der linken Syriza-Regierung könnten die Rechtsextremen die Oberhand gewinnen. »Sie sitzen schon auf der Lauer.«
Die meisten Griechen sind nicht darüber schockiert, dass sie am Sonntag in einem Referendum abstimmen sollen. Was sie jedoch entsetzt, ist die Geschwindigkeit, mit der alles entschieden wurde. Es gab keine Anzeichen dafür. Bis zuletzt hatte man fest daran geglaubt, dass es vor dem 30. Juni noch zu einer Einigung mit den Europartnern kommen würde.
Wie bei allen Griechen herrschen auch unter den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Angst und Unsicherheit. Doch Premier Tsipras hält dies für einen schlechten Ratgeber: »Die größte Angst, die wir in dieser schweren Stunde zu überwinden haben, ist die Angst selbst«, beteuert er seit Tagen immer wieder. »Griechenland weiß nicht, was morgen kommt. Es weiß nur, dass es sich gestern noch in einer Sackgasse befand«, sagt eine junge Jüdin in Thessaloniki.
Vielleicht wäre Rückbesinnung ratsam, meint sie. »Oder man müsste sich dem Optimismus der meisten Jungen in Griechenland anvertrauen.« Die junge Frau klappt ihren Computer auf und klickt auf Facebook. »Nach der Stimmung zu urteilen, die einem hier entgegenschlägt, wird das Referendum am Sonntag eindeutig mit Nein entschieden«, sagt sie und fügt hinzu: Griechenland sei eben nicht Deutschland. »Den Göttern sei Dank.«