Die Lower East Side, von der an dieser Stelle schon öfter die Rede war, ist so etwas wie der Durchlauferhitzer Amerikas. Generationen um Generationen von Einwanderern sind hier durchgegangen: Deutsche, Russen, Polen, Ukrainer und selbstverständlich auch Juden aus dem Zarenreich, aus allen deutschen Ländern, aus der Donaumonarchie. Später waren die Chinesen dran, noch später die Leute aus der Dominikanischen Republik.
Die Auswanderer kamen kalt hier unten an und wurden dann vom Wärmestrom der amerikanischen Gesellschaft weiter und sozial nach oben getragen. Jeder fünfte Amerikaner, ganz gleich, wo er lebt, hat heute zumindest ein Familienmitglied, das in der Lower East Side gelebt hat.
Mietwohnungen Ich wollte mir dort schon immer das »Tenement Museum« anschauen, das Museum über die Mietwohnungen in diesem Stadtviertel, das früher einmal elend und verdreckt war, weil hier eine größere Bevölkerungsdichte als in Kalkutta herrschte. Vor ein paar Tagen habe ich es dann endlich geschafft. Ich nahm meinen Freund Utz mit, der in der DDR im Gefängnis gesessen hat, weil er den Sozialismus nicht so gut fand.
Die Führung war exzellent. Eine junge schwarze Frau, die sich hervorragend vorbereitet hatte, führte uns durch einen finsteren Gang eine enge Treppe hoch in die Wohnung der deutsch-jüdischen Familie Gumpertz, die hier in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts lebte. Ein Schneider, seine Frau, vier Kinder, Toiletten und Wasserquelle im Hinterhof. Der jüngste Sohn starb, dann haute der Mann ab, weil er die Familie in einer Wirtschaftskrise nicht mehr über Wasser halten konnte.
Die Frau, sie hieß Nathalie Gumpertz, brachte ihre Familie durch, indem sie sich Näharbeiten und alleinstehende Frauen als zahlende Gäste ins Haus holte. Was für ein Elend, was für ein Mut! Am meisten aber beeindruckte mich mein Freund Utz. Als wir die Außentoilette besichtigten, die nach der Jahrhundertwende für alle Familien eines Stockwerks installiert wurde, flüsterte er mir ins Ohr: »Anders haben wir in der DDR auch nicht gelebt.«