Bauer von E2 auf E4. Über rechts kann gleich die Dame frei brechen. Der Mann freut sich. Sein vielleicht achtjähriger Sohn wackelt erst an einem Bauern, dann zieht er den Springer. G8 auf F6. Der Vater nickt. In schneller Abfolge ziehen sie weiter an den kniehohen Figuren. Die hohlen Kunststoffkörper klingen beim Aufsetzen fast wie Tennisbälle. Schnell stehen die Figuren wild durcheinander.
Die einzige Strategie scheint zu sein, der erbarmungslos grellen Mittagssonne wieder zu entkommen, die im Dezember 2021 auf Petrópolis brennt. Bevor sie in den Schatten flüchten, wollen Mutter und Oma, dass ihre Schachspieler in die Kamera lächeln. Am besten vor der Palme. Vielleicht ist auf den Bildern nun ein weiteres Gesicht zu sehen. Denn durch die Palmenblätter schimmert das Abbild des alten Hausherrn: Stefan Zweig.
meisterwerk Ein Schachbrett gab es nicht, als der österreichische Superstar und seine zweite Frau Lotte 80 Jahre zuvor, im September 1941, Zuflucht in den brasilianischen Bergen suchten. Stattdessen schlängelte sich ein Pfad durch den Garten hinauf zu dem Bungalow. Auf der Veranda schrieb Zweig sein letztes Meisterwerk: die Schachnovelle.
Im winzigen, vielleicht zehn Quadratmeter großen Schlafzimmer des Hauses nahmen Stefan und Lotte sich das Leben. Am 23. Februar 1942 wurden ihre Körper auf den zwei schmalen Liegen gefunden, die sie zu einem Ehebett zusammengeschoben hatten. Heute ist das Zimmer nahezu leer. Nur Zweigs Totenmaske wird darin aufbewahrt.
»Seit 25 Jahren beschäftige ich mich mit seinem Werk. Ich lebe fast in einer Ménage-à-trois mit ihm und meinem Mann zusammen«, scherzt Kristina Michahelles. Die Journalistin leitet die Casa Stefan Zweig, so nennt sich das kleine Museum, das sich seit bald zehn Jahren in seinem letzten Wohnhaus befindet. Mehrere seiner Bücher hat sie ins Portugiesische übersetzt.
gedenkstätte Die Casa sei vor allem eine Gedenkstätte des Exils, sagt Michahelles. Bis zu 16.000 Menschen sind während der Nazizeit aus Deutschland nach Brasilien geflohen. »Stefan Zweig ist durch seinen sehr dramatischen, tragischen letzten Akt und durch seine literarische Bedeutung der wichtigste«, sagt sie, »aber es gab Hunderte, Tausende, die das Land bereichert haben, mit dem, was sie hinterließen«.
In Petrópolis schrieb Zweig sein letztes Meisterwerk: die »Schachnovelle«.
Die Casa Stefan Zweig in Petrópolis will an diese Zeit erinnern. In einer Datenbank konnte das Publikum vor der Pandemie die Biografien von Exilantinnen und Exilanten durchforsten. In den Vitrinen liegen persönliche Gegenstände von Stefan und Lotte Zweig, die vom einfachen Alltag in Brasilien vor 80 Jahren zeugen. An den Wänden hängen Fotos, die ein längst verlorenes Rio de Janeiro zeigen − eine Stadt, die mehr mit Paris gemein zu haben scheint, als mit den Betonbauten, die heute die Innenstadt dominieren.
Zweigs Verhältnis zu Brasilien erscheint kompliziert, auf den ersten Blick vielleicht sogar rätselhaft. Insgesamt hat er lediglich 315 Tage in dem Land verbracht. Er hat dort eines seiner wichtigsten Werke geschaffen sowie eines seiner umstrittensten, er hat eine umjubelte Lesereise erlebt, von der er überschwänglich schwärmte, und er hat dort, tief in Depressionen versunken, seinem Leben ein Ende gesetzt.
zwischenstopp 1936 legte er auf dem Weg nach Argentinien in Rio de Janeiro einen Zwischenstopp ein. Junge Damen jagten nach Autogrammen von ihm, täglich gab es mehrere Berichte in der Presse über seine Schritte. Schon damals war er im größten Land Südamerikas ein Bestsellerautor. »Wer damals etwas auf sich hielt, hatte den gesamten Zweig in seinem Bücherregal«, so die Museumsdirektorin.
Zweig kam im mondänen »Copacabana Palace« unter, dem luxuriösesten Hotel der Stadt. Finanziert wurde sein Aufenthalt von der Regierung des Diktators Getúlio Vargas − ein Nationalist und Antikommunist.
Fragen von Reportern zur politischen Lage in Deutschland beantwortete Zweig nicht. Fünf Tage vor seiner Ankunft waren in Berlin die Olympischen Spiele zu Ende gegangen. Das deutsche Regime setzte die Maske wieder ab, der Antisemitismus kam wieder offen zum Vorschein.
biografie Vargas schien damit keine Probleme zu haben. Während Zweig sich in Rio feiern ließ, schob die brasilianische Regierung unter anderem Olga Benario ab, die Ehefrau eines lokalen Kommunistenführers. »Weil sie Deutsche ist, wird sie trotz ihrer Schwangerschaft an Deutschland ausgeliefert«, schreibt Alberto Dines in seiner Zweig-Biografie Tod im Paradies. »Als Jüdin und Kommunistin wird sie der Gestapo übergeben. Wie so viele andere wird sie im Konzentrationslager enden.«
Ob Zweig von ihrem Schicksal erfährt, bleibt nach Dines unklar. Wie sehr sich die jüdische Gemeinde um Verwandte und Freunde in Deutschland sorgte, müsse der Schriftsteller jedoch mitbekommen haben.
Zum Beispiel gab er eine Lesung vor mehr als 1200 Personen, bei der Geld für jüdische Flüchtlinge gesammelt wurde. Die Presse war nicht zugelassen. Ein Jahr nach Zweigs Reise verweigerte Vargas Juden schließlich die Einreise. Damit sollten insbesondere Flüchtlinge aus Deutschland abgeschreckt werden.
URWALD In Briefen an seine erste Frau Friderike schwärmte Zweig von der Stadt. Die steilen Berge mit ihren satten Urwäldern faszinierten ihn, der endlose Hafen, die breiten Strände. Aber auch das Miteinander von Menschen verschiedener Hautfarben schilderte er als positiv, leicht und freundlich.
Nach diesen Erlebnissen entwickelte Zweig eine Sehnsucht nach dem Land. Als er vom Londoner Exil aus erlebte, wie schnell die Nazis Paris einnahmen, muss er sich wieder an die Reise zum Zuckerhut erinnert haben. Schon damals hatte er versprochen, über das Land ein Buch zu schreiben.
1941 wurde Brasilien. Ein Land der Zukunft gleichzeitig in sieben Sprachen herausgegeben. Für das Buch hatte er fünf Monate vor Ort recherchiert. Wieder trug die Vargas-Regierung die Kosten. In Europa wird es schnell zum Standardwerk für viele, die den Faschismus nicht länger ertragen und sich wegträumen.
Wer in den 40er-Jahren in Südamerika etwas auf sich hielt, hatte den gesamten Zweig im Bücherregal.
In Brasilien wird das Buch weniger gut aufgenommen. Zweig verbreitet darin unter anderem die Legende von der sogenannten »Demokratie der Rassen«. Nach dieser Theorie leidet das Land zwar unter großen sozialen Problemen, mit Rassismus hätten diese allerdings nichts zu tun.
wunden Dass vor allem die schwarze Bevölkerung benachteiligt und diskriminiert wird, blendet Zweig aus. Und somit auch die tiefen Wunden in der Gesellschaft, die der Jahrhunderte andauernde Sklavenhandel angerichtet hatte – und auf den auch viele der heutigen Probleme im Land zurückgehen. »›Auf Bestellung geschrieben‹ lautet die mildeste Anklage«, schreibt Dines über die Reaktionen in der brasilianischen Presse auf die Veröffentlichung.
Dass Zweig im Gegenzug für eine Lobschrift ein Visum erhalten habe, sei jedoch nicht öffentlich thematisiert worden. »Da es die Zeitungen und Zeitschriften nicht wagen, die Regierung für ihre unmenschliche Immigrationspolitik zu kritisieren, bleibt nur der Rückgriff auf die Herabsetzung« Zweigs, schreibt sein Biograf.
»Man darf das Buch nie aus dem Kontext nehmen«, sagt Kristina Michahelles. Zweig habe in der Einleitung klar gemacht, dass Brasilien wie eine Zwiebel sei, von der er nur die äußerste Hülle kennengelernt habe. »Er hat einen utopischen Gedanken einer harmonischen Gesellschaft da hineinprojiziert«, sagt sie. Wie er das Land beschreibt, müsse auch als Reaktion darauf gelesen werden, was ihn am Deutschland der 30er- und 40er-Jahre abgestoßen habe.
BOLSONARO Die Geschichten von Menschen wiederaufleben zu lassen, die in Brasilien Schutz suchten, sei zurzeit nicht einfach, sagt Michahelles. Unter Bolsonaro sei das Land schlicht nicht sonderlich kulturfreundlich. Dennoch versucht die Casa als Kulturzentrum Diskussionen oder Lesungen zum Thema Exil zu organisieren. In Petrópolis, Rio de Janeiro oder São Paulo sei dies bereits geschehen, aber auch in Genf und demnächst in Budapest.
»Humanismus, Pazifismus, Toleranz, alle möglichen Arten von Ausgrenzung zu vermeiden«, das seien die zentralen Themen, für die Zweig einstand, sagt Museumsleiterin Michahelles. »Davon können vor allem junge Brasilianer und Schulklassen lernen«, sagt sie, »besonders in Zeiten des Extremismus.« Seitdem sein Werk rechtefrei abgedruckt werden kann, habe es insbesondere in Südamerika ein Revival erlebt.
Seit zehn Jahren gibt es ein Museum in seinem letzten Wohnhaus: die »Casa Stefan Zweig«.
Während der letzten Monate seines Lebens verfiel Zweig in eine tiefe Depression. Er fühlte sich allein, fand niemanden zum Reden, vermisste kulturelle Ereignisse. Verglichen mit dem Luxus, den er von seiner Villa auf dem Salzburger Kapuzinerberg gewohnt war, erschien die Casa in Petrópolis wie ein Gartenhäuschen.
Die Möbel waren einfach, für jedes Bad musste Wasser aufwendig erwärmt werden. Zudem musste sich Zweig in seinen letzten Monaten alle Zähne ziehen lassen. Manie und Verzweiflung durchziehen sein letztes Werk, in dem die zentrale Figur an einer »Schachvergiftung« zugrunde geht.
FRIEDHOF In Petrópolis, der ehemaligen Sommerresidenz der brasilianischen Kaiser, liegen Stefan und Lotte Zweig auch begraben. Zweig wollte in Rio de Janeiro auf einem jüdischen Friedhof bestattet werden. Doch aufgrund des doppelten Freitods sei dies einem großen Teil der Gemeinde nicht vermittelbar gewesen, schreibt Dines. Stattdessen sei ein Rabbi aus der damaligen Hauptstadt des Landes in das 80 Kilometer entfernte Städtchen in den Bergen gereist. Auf einem christlichen Friedhof habe der weltberühmte Autor eine Art Staatsbegräbnis nach jüdischem Brauch erhalten.
In der Mittagshitze im Dezember 2021 bauen vier junge Erwachsene die Schachfiguren im Garten der Casa wieder auf. Wo steht eigentlich die Dame richtig, fragt jemand. Figuren werden umplatziert und doch wieder zurückgetauscht. Eine der Frauen zieht. Bauer von E7 auf E6. Kein besonders ernstes Spiel. Plop, plop, plop, vom Balkon aus klingt es wie ein Tennismatch.
Es wird viel gekichert, mal knallt eine Figur um. Die Sonne beendet das Spiel nach wenigen Minuten. Ob jemand gewonnen hat, ist unklar. Schnell noch ein Selfie machen. Dann läuft die Gruppe zum Gartentor und passiert das große Plakat: »Stefan Zweig vive« steht dort über seinem Porträt. Stefan Zweig lebt.
Anders als in einer früheren Version geschrieben, befand sich Stefan Zweigs Villa auf dem Salzburger Kapuzinerberg Anfang der 40er-Jahre nicht im Besitz von Wolfgang Porsche. Stefan Zweig verkaufte das Haus im Mai 1937 an das Ehepaar Victor und Frieda Gollhofer, Textilkaufleute in Salzburg. Die Nachkommen der Gollhofers haben es im Oktober 2020 an Porsche verkauft. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.