Wer nächster Premierminister Großbritanniens sein wird, kann noch nicht mit letzter Gewissheit gesagt werden. Doch sämtliche Demoskopen müssten sich wohl einen neuen Job suchen, wenn nicht Labour-Chef Keir Starmer in den nächsten Tagen im Buckingham Palace die Hand von König Charles III. küssen wird. In aktuellen Umfragen der BBC ist die Labour-Partei mit 40 Prozent doppelt so stark wie die Konservativen des amtierenden Premiers Rishi Sunak. Denn der Frust ist groß: Steigende Lebenshaltungskosten, ein unterfinanziertes Gesundheitssystem, der Brexit-bedingte Mangel an Arbeitskräften und die noch immer anhaltende Flüchtlingskrise erwarten Keir Starmer.
Der neue Premierminister wird den Kurs seines Landes herumreißen müssen, wie seine Partei es vor fünf Jahren tat. Denn 2019 waren die politischen Verhältnisse spiegelverkehrt: Während Labour auch wegen der zahlreichen Antisemitismus-Skandale um den damaligen Parteichef Jeremy Corbyn das schlechteste Wahlergebnis seit 100 Jahren verschmerzen musste, feierte Premierminister Boris Johnson einen Erdrutschsieg. Auch weil er versprach, das Land endlich aus der Europäischen Union zu führen. Nach der Wahlkatastrophe übernahm Starmer 2020 den Vorsitz der Arbeiterpartei und räumte auf. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Entschuldigung bei den jüdischen Gemeinden in Großbritannien für den grassierenden Antisemitismus in der Partei.
Labours Antisemitismusskandale
Ein im selben Jahr veröffentlichter Bericht der Gleichberechtigungs- und Menschenrechtskommission machte deutlich, wie schlimm die Zustände unter Corbyns fünfjährigem Vorsitz waren: Hochrangige Parteifunktionäre sorgten mit antisemitischen und israelfeindlichen Aussagen für Eklats. So behauptete etwa Londons Ex-Bürgermeister Ken Livingstone, Hitler hätte den Zionismus unterstützt, die Abgeordnete Naz Shah forderte, Israel in die USA zu verlegen, und der Abgeordnete Chris Williamson behauptete, das Antisemitismus-Problem im Land sei überbewertet. Dem Parteichef selbst wurde in dem Bericht vorgeworfen, neun Fälle von Antisemitismus toleriert zu haben oder selbst dafür verantwortlich zu sein. So schrieb Corbyn das Vorwort für ein Buch, in dem behauptet wurde, dass Juden die Banken und die Presse kontrollieren würden, und legte sogar einen Kranz am Grab palästinensischer Terroristen ab. Sieben Abgeordnete traten wegen des anhaltenden Antisemitismus aus der Partei aus.
Jeremy Corbyn selbst wurde von Keir Starmer aus der Partei und der Fraktion geworfen, weil jener behauptet hatte, der Bericht würde das Ausmaß des Antisemitismus bei Labour übertreiben, um der Partei zu schaden. Starmer hingegen versprach, alle von der Menschenrechtskommission vorgeschlagenen Reformmaßnahmen umzusetzen. Rund drei Jahre später wurde er von den Autoren des Berichts für seine Arbeit gelobt. Luciana Berger, eine der ausgetretenen Abgeordneten, kehrte im Frühjahr 2023 zurück. »Das ist nicht mehr die Partei, die ich verlassen habe«, sagte sie bei einer Veranstaltung.
Was macht Corbyn?
Doch es gab auch Rückschläge für Starmer: Erst im Februar behauptete Azhar Ali, ein Labour-Kandidat für eine Nachwahl im Wahlkreis Rochdale, Israel hätte die Massaker vom 7. Oktober 2023 zugelassen, um in Gaza Krieg führen zu können. Starmer suspendierte Ali, Kritikern zufolge allerdings zu spät.
Und Jeremy Corbyn? Der sitzt seit 2020 als fraktionsloser Abgeordneter im Unterhaus und will am 4. Juli als unabhängiger Kandidat für Islington wieder ins Parlament einziehen. In Umfragen liegt er deutlich hinter seinem Labour-Konkurrenten Praful Nargund.