Schweden

Staffelwechsel in Stockholm

»Wir sind ein gutes Team«: Ute Steyer (47) und Isidoro Abramowicz (42) Foto: Patrik Goldberg

Es ist ein Novum in der schwedisch-jüdischen Geschichte: Mit der New Yorkerin Ute Steyer übernimmt dieser Tage erstmals eine Frau das Rabbineramt in Stockholms Großer Synagoge. Die 47-Jährige konnte sich in einem langen Auswahlverfahren gegen drei Mitbewerber durchsetzen.

»Eine Frau als Rabbinerin hat einen hohen symbolischen Wert, umso mehr in einer demokratischen und gleichberechtigten Gesellschaft wie der schwedischen«, meint Ingrid Lomfors, Generalsekretärin der Jüdischen Gemeinde Stockholm. Es zeige, dass Frauen auch in traditionell männlich besetzten Bereichen des Judentums Männern in nichts nachstehen.

Orientierung Dabei war das Geschlecht für die meisten Gemeindemitglieder eher nebensächlich. Vielmehr kam es auf andere Kriterien an: Inhalte, Ziele und Persönlichkeit. Denn seit der Pensionierung von Oberrabbiner Morton Narrowe 1998 hat die Große Synagoge viele Turbulenzen erlebt. Schwindende Mitgliederzahlen, Konflikte innerhalb der Einheitsgemeinde – einige sprechen gar von Zersplitterung – und nicht zuletzt die zunehmende Verunsicherung durch anti-israelische Demonstrationen weckten bei vielen Stockholmer Juden den Wunsch nach mehr Kontinuität und Orientierung.

Vor allem erwartet die Gemeinde von der neuen Rabbinerin wegweisende Impulse für Kultur, Bildung und interreligiösen Dialog, gerade angesichts neuer Radikalisierung in der schwedischen Gesellschaft. »Ute Steyer bringt da die besten Voraussetzungen mit«, findet Ingrid Lomfors. Denn egal ob Rabbiner oder Rabbinerin – Hauptsache integrieren statt polarisieren.

Das ist bitter nötig. Denn in letzter Zeit haben sich vor allem Familien und Jugendliche von der Gemeinde abgewendet. Insbesondere nach dem Weggang von Steyers Vorgänger David Lazar 2013 blieben immer mehr Familien dem Gottesdienst fern. Dabei hatte es der charismatische Rabbiner verstanden, gerade junge Leute für die Synagoge zu begeistern.

Viele ältere Gemeindemitglieder hingegen hatte Lazar zunehmend befremdet. Interreligiöser Dialog und Gay-Hochzeiten in der Großen Synagoge – schön und gut, doch manchen ging das als zunehmend einseitig empfundene Engagement des Amerikaners zu weit. Sie warfen ihm vor, sich »zu viel für wenige und zu wenig für die Mehrheit der Einheitsgemeinde« zu engagieren. Nach Vertragsablauf 2013 konnten sich Rabbiner und Gemeinde nicht auf eine Verlängerung einigen.

Kein leichtes Erbe für Ute Steyer. Neugier weckt die neue Rabbinerin nun allemal, denn mit Kursen in Talmud, Philosophie und Halacha will sie vor allem jüdisches Lernen wieder attraktiver machen – für alle Generationen.

Smicha Steyer stammt aus einer sefardischen Familie und wuchs in London, Berlin und Athen auf. Sie überzeugte die Stockholmer Gemeinde vor allem mit ihren Qualifikationen, darunter akademischen Abschlüssen in Jüdischer Philosophie und Halacha sowie Rabbinerausbildungen in Israel und den USA. Ihre Smicha hat sie 2009 am Jewish Theological Seminar (JTS) in New York erhalten. Es habe aber auch menschlich zwischen der Kandidatin und der Gemeinde »gefunkt«, sagt Sebastian Selvén (26), der in den vergangenen Monaten gelegentlich im Gottesdienst aushalf.

Die Bewerbung war für Steyer fast eine Art Heimspiel. Sie ist in Stockholm keine Unbekannte. 1992 arbeitete sie bei der schwedischen Handelskammer und dem Kommunikationsunternehmen Ericsson. Später studierte sie bei Paideia, dem Europäischen Institut für Jüdische Studien in Stockholm.

Nun freuen sich viele alte Freunde aus dieser Zeit auf ein Wiedersehen mit der Rabbinerin. Einer von ihnen ist Noa Hermele, Vizedirektor von Paideia. »Ute ist eine außergewöhnliche Gelehrte und ein wunderbarer Mensch. Sie ist tief verankert in den jüdischen Quellen«, sagt Hermele. »Mit ihrer Bildungsoffensive eröffnet sie neue Perspektiven für das Gemeindeleben.«

Glücksfall Ingrid Lomfors hält es für einen Glücksfall, dass Ute Steyer fließend Schwedisch spricht und sich im jüdischen Stockholm gut auskennt. »Viele Gemeindemitglieder haben sich das gewünscht«, so Lomfors. Die neue Rabbinerin weiß genau, wie die schwedische Gesellschaft funktioniert. Der Umzug nach Stockholm wird für sie kein Kulturschock sein wie für viele ihrer Vorgänger, die sich oft schwertaten mit der schwedischen Mentalität.

Und Steyer fängt nicht allein an: Seit Jahresbeginn steht an ihrer Seite der neue Kantor Isidoro Abramowicz. Auch er spricht mehrere Sprachen: neben Spanisch, Englisch und Hebräisch auch fließend Deutsch. Insgesamt lebte Abramowicz elf Jahre in Deutschland: Nach seiner Ausbildung am Konservatorium in Buenos Aires übernahm der Argentinier zunächst die Leitung des Oldenburger Synagogenchors. Später ließ er sich am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg zum Kantor ausbilden und zog dann mit seiner Familie für ein Jahr nach Israel, bis das Angebot aus Stockholm kam.

Ideen »Ich fühle mich hier herzlich aufgenommen«, sagt Abramowicz. Der 42-Jährige sprüht vor Ideen und Energie. So plant er Konzerte für Chor, Orchester und Kantoren sowie Projekte mit Kindern, jungen Familien und Senioren. Sein Credo: Alle sollen sich wohlfühlen in der Großen Synagoge. Denn das Potenzial sei riesig. Er empfinde es als großes Glück, gemeinsam mit Ute Steyer viel Neues auszuprobieren, sagt Abramowicz. »Wir sind ein gutes Team. Und da wir beide neu sind, haben wir die Chance, uns gegenseitig zu unterstützen.«

Bei allem Schwung sind Kantor und Rabbinerin Realisten – sie wollen aus den Erfahrungen ihrer Vorgänger lernen. Sowohl Steyer als auch Abramowicz gelten als brillante Kommunikatoren. In einem Interview mit dem Schwedischen Rundfunk sagte Steyer kürzlich, das jüdische Leben in Stockholm sei »eher kulturell als religiös orientiert«. Eine ihrer größten Herausforderungen sehe sie deshalb darin, eine Balance zwischen religiösen und intellektuellen Traditionen zu finden und zu vermitteln.

Das kommt vor allem bei jüngeren Gemeindemitgliedern wie Sebastian Selvén gut an. »Junge Menschen brauchen konkrete Anhaltspunkte, um ihr Judentum mit Inhalten zu füllen«, sagt er. »Schoa-Gedenken, Gefilte Fisch und Nostalgie reichen in einer säkularisierten Gesellschaft wie der schwedischen nicht mehr aus.« Ute Steyer sei eine der besten Predigerinnen, die er je gehört habe, findet Selvén. Sie gibt dem jüdischen Lernen mehr Raum. Was die Große Synagoge wirklich brauche, seien Veränderungen, die auch langfristig wirken.

Wie auch immer diese Veränderungen in der Stockholmer Einheitsgemeinde aussehen werden – eines steht jetzt schon fest: Die Erwartungen an ihr neues religiöses Duo sind groß.

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