Niederlande

Stadtplan der Erinnerung

Was er spielen wird? Julius Vischjager hält kurz inne, bevor er am Piano Platz nimmt. »Schumann«, sagt er lächelnd, »den haben die Nazis benutzt, um Mendelssohn zu verdrängen.« Dann greift er in die Tasten und spielt aus Schumanns Kinderszenen.

Es ist früh am Morgen des 4. Mai, dem Tag, an dem die Niederlande der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedenken. Julius Vischjagers Wohnzimmerkonzert im Osten Amsterdams ist der Auftakt zu einer besonderen Form der Erinnerung: »Offene Jüdische Häuser« heißt die Initiative des Jüdisch-Historischen Museums. In sechs Städten des Landes laden frühere und heutige Bewohner ein, die jüdische Geschichte verschiedener Gebäude zu entdecken. Es ist ein intimes Gedenken, ein persönlicher Austausch von Zeitzeugen und Zuhörern in kleinem Rahmen.

Julius Vischjager ist Mitte 70. Während der deutschen Besatzung wohnte er mit seiner Mutter in dem großen Gebäude, das damals eine jüdische Pension beherbergte. Erinnern kann er sich kaum daran, denn er war damals ein kleiner Junge. Doch unter den Zuhörern sitzt an diesem 4. Mai Joël Cahen, der Direktor des Jüdisch-Historischen Museums. Er erklärt: »Viele Juden mussten damals nach Amsterdam ziehen. Da spielten solche Unterkünfte natürlich eine große Rolle.«

Konzept Genau so hat sich Denise Citroen das vorgestellt. Miteinander reden, das war ihr Motiv, als sie vor zwei Jahren das Konzept bedachte. Die Lokalzeitung Het Parool hatte damals eine Liste ehemals jüdischer Häuser veröffentlicht und die heutigen Bewohner gebeten, die Gebäude mit einem Poster sichtbar zu machen.

Citroen und ihre 200 ehrenamtlichen Kollegen gehen einen Schritt weiter: »Unsere Idee ist, die Häuser zu öffnen und das Innere zu zeigen.« Wie wichtig die Geschichten von Überlebenden für die Nachwelt sind, erfuhr sie während ihrer Arbeit für Steven Spielbergs Shoah Foundation. Die Häuser bilden eine persönliche Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. »Für viele junge nichtjüdische Menschen ist der Holocaust lange her und weit weg. Wenn man aber begreift, dass es im eigenen Haus oder in der Nachbarschaft passierte, hat das einen enormen Effekt.«

Allein in Amsterdam führt die besondere Gedenktour durch 17 Häuser. Nicht überall setzt sie auf Überraschungen. Einige Kilometer weiter westlich ist der Festsaal der früheren Reformierten Hochschule völlig überfüllt. Gleich nebenan befand sich die »Hollandse Schouwburg«, ein Theater, das die deutschen Besatzer erst zu einer jüdischen Bühne und dann bei der Deportation zum Sammelort für Juden umfunktionierten.

ajax amsterdam In der örtlichen Geografie der Schoa ist die Schouwburg ein fester Bezugspunkt. Bekannt ist der Mann, der hier gleich seine Geschichte erzählen wird: Salo Muller, zu Hochzeiten des Fußballclubs Ajax Amsterdam in den 70er-Jahren Masseur und Vertrauensperson der Kicker und zugleich so etwas wie die jüdische Gallionsfigur des Vereins.

Muller, der auf die 80 zugeht, ist ein großes Erzähltalent. Seine Odyssee über zahllose Unterschlupforte im halben Land begann im Theater, von wo aus seine Eltern nach Auschwitz deportiert wurden. Helfer brachten den verängstigten Jungen im letzten Moment in den benachbarten jüdischen Kindergarten, von dem aus er wie viele andere Kinder in ein Versteck gebracht wurde.

Es folgte ein atemloser Ritt durch die Abgründe von Verrat und aufkeimender Hoffnung, mit einer nur vage definierten Identität: Japje Mulder – so wurde der Junge genannt – gelangte von einer katholischen Pflegefamilie in ein streng protestantisches Umfeld, »etwas verwirrend für einen jüdischen Jungen«, sagt er. Sein genaues Alter kannte Muller nicht. Mit den Verwandten, zu denen er nach dem Krieg kam, konnte er zunächst kaum kommunizieren, da er nach den Jahren auf dem Land besser Friesisch sprach als Niederländisch. Die Schule, die er erst mit zwölf begann, war mühsam. Erst der Masseursjob bei Ajax bot ihm einen Ausweg.

Pflegeheim Ganz anders die Perspektive von Ans Polak, die am Samstagmittag an ihren früheren Arbeitsplatz zurückkehrte. Hoch über der Amstel nimmt sie an einem Tisch Platz, im siebten Stock eines Gebäudes, das einst als »Gläserner Palast« bekannt war und das Pflegeheim »De Joodsche Invalide« beherbergte. Heute sitzt dort der städtische Gesundheitsdienst.

Mitarbeiterin Hannah van den Ende, die im Nebenberuf die Geschichte jüdischer Ärzte in den Niederlanden erforscht, präsentiert alte Filmaufnahmen des »Joodsche Invalide«. Auf einem Tisch steht eine der obligatorischen Sammelbüchsen mit dem Davidstern, in der Ecke daneben ein hölzerner alter Rollstuhl.

Ans Polak, auch bekannt als »Suster Polak« (Schwester Polak), erzählt von der harten Arbeit, von 30 Betten, die in einer halben Stunde gereinigt werden mussten, und davon, wie sie als 18-Jährige mit einer Kollegin beim Toilettenputzen Duette sang. Doch auch von den Razzien, der Ausgangssperre und den Kindern, die aus der »Schouwburg« gerettet und nach Tagen im Versteck ins Pflegeheim gebracht wurden, um sie dort zu waschen.

Für Suster Polak, die nächstes Jahr 90 wird, ist das alles andere als Geschichte. Erst vor vier Monaten erfuhr sie, dass ihr Vater, der in Sachsenhausen ermordet wurde, in Berlin begraben liegt. Den Ort will sie nun besuchen. »Es bedeutet mir deshalb viel, meine Erfahrungen zu erzählen«, sagt sie nach ihrem Vortrag.

Die Zuhörer umringen die frühere Krankenschwester. Eine Frau um die 60 will wissen, ob Suster Polak vielleicht ihre Mutter gekannt hat, die auch im jüdischen Pflegeheim arbeitete. Und plötzlich steht ein Mann vor ihr. »Mevrouw, darf ich ihnen einen Kuss geben?«, fragt er. Fast zärtlich fasst er Suster Polak an den Unterarmen und drückt ihr drei Küsse auf die Wangen.

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