Wer die Webseite der Organisation Chesed-Tschuwa im russischen Rjasan besucht, dem fällt unter dem Bild von Moses, der das jüdische Volk durchs Rote Meer führt, ein Banner mit einer Friedenstaube ins Auge. »70 Jahre Sieg« steht dort geschrieben, dazu die Jahreszahlen 1945 und 2015. Das orange-rote Georgsband, das auf der Chesed-Webseite neben dem Davidstern zu sehen ist, wird in Russland auch als Zeichen einer patriotischen Einstellung verstanden. Anfang September freute sich die Organisation zudem über Neujahrswünsche von Präsident Putin an die Juden Russlands.
Wenn es jedoch nach den Justizbehörden geht, soll sich die in Rjasan südöstlich von Moskau ansässige Wohltätigkeitsorganisation auf ihrer Webseite ebenso wie in sämtlichen Info-Broschüren künftig als »Ausländischer Agent« bezeichnen. Hintergrund ist eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2012. Der zufolge müssen Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten und sich gleichzeitig politisch betätigen, diese Bezeichnung tragen.
JOINT Das Kriterium der ausländischen Finanzierung trifft auf Chesed-Tschuwa zu, wie die Organisation selbst erklärt: Ebenso wie weitere jüdische Organisationen erhalte man über deren russische Tochterstiftung Geld von der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation Joint. Geld allerdings, wie Chesed-Tschuwa betont, das ausschließlich in soziale Projekte wie Hauskrankenpflege und Zuschüsse zu Behandlungskosten fließe. Politisch, so die Organisation, betätige man sich prinzipiell nicht.
Worin genau die politische Tätigkeit von Chesed bestehen soll, darüber kann auch der offizielle Eintrag ins Register ausländischer Agenten beim russischen Justizministerium keine Auskunft geben. Es heißt dort schwammig, das Ziel der politischen Tätigkeit bestehe in der »Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung von Staatsorganen, die auf die Änderung der von ihnen durchgeführten staatlichen Politik ausgerichtet ist«. Mittel hierzu sei das »Durchführen öffentlicher Veranstaltungen« sowie die »Gestaltung der öffentlichen Meinung«.
Ukraine-Konflikt Tatsächlicher Hintergrund der Listung könnten einige auf der Webseite von Chesed-Tschuwa veröffentlichte Presseartikel mit Bezug auf den Ukraine-Konflikt sein, vermutet Rabbi Boruch Gorin, Sprecher der Föderation der jüdischen Gemeinschaften Russlands.
Von einem gezielten Angriff auf die jüdische Bevölkerung möchte Gorin nicht sprechen. Er sieht in der Aktion eher eine Kampagne gegen die Zivilgesellschaft im Allgemeinen, um die Geldgeber abzuschrecken. Allerdings wecke die Entscheidung Erinnerungen daran, wie jüdische Organisationen bereits früher vom Staat als »fünfte Kolonne« bezeichnet wurden. Tatsächlich stand die Hilfsorganisation Joint bereits 1953, kurz vor Stalins Tod, als angebliche »Zweigstelle amerikanischer Geheimdienste« im Mittelpunkt antisemitischer Schauprozesse im Rahmen der sogenannten Ärzteverschwörung.
Rechtsmittel Die Organisation Chesed-Tschuwa in Rjasan will die Bezeichnung »ausländischer Agent« nicht auf sich sitzen lassen und hat Rechtsmittel angekündigt gegen die Aufnahme in das Register, das russlandweit derzeit 94 Einträge umfasst.
Unterdessen kritisieren Menschenrechtler vor allem die unscharfen Bestimmungen, die die Grenze zwischen sozialer und politischer Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen in Russland verschwimmen lassen. Bei einem Treffen mit dem von ihm einberufenen Menschenrechtsrat sagte Putin Anfang Oktober eine Überprüfung des Gesetzes innerhalb von drei Monaten zu.