Unmittelbar nach der ›Stillen Revolution‹ 1989 zeigte sich, dass es in Ungarn Bedarf gibt für einen jüdischen Kindergarten», fängt Zsuzsa Böczén, Leiterin der Kita «Benjámin» der Budapester jüdischen Gemeinde, an zu erzählen. «Vor 30 Jahren haben wir dann mit fünf Kleinen angefangen», fährt sie fort, «heute gibt es Platz für 100 Sprösslinge im Kindergartenalter und für weitere zwölf in der Krippe.»
Neben dem vorgeschriebenen nationalen Erziehungsplan wird im Kindergarten nach jüdischen Regeln gelebt. Das heißt, man lernt zwar die klassischen ungarischen Kinderlieder und Gedichte, erfährt über die Umwelt und eignet sich rechnerische Grundkenntnisse an. Hinzu kommt aber die Vermittlung jüdischer Werte – im Sinne der sogenannten Neologie, einer spezifisch ungarischen Variante des konservativen Judentums.
KASCHRUT Anders als in orthodoxen Einrichtungen wird von den Familien nicht erwartet, dass sie den Schabbat halten oder einen koscheren Haushalt führen. Nicht einmal ein Beweis für die jüdische Herkunft der Eltern werde verlangt, sagt die Leiterin. Obwohl die Zielgruppe Juden seien, hätten rund 30 Prozent der Kinder keine jüdischen Wurzeln. Innerhalb der Kita werden jedoch alle halachischen Regeln beachtet. Jeden Freitag wird der Schabbat mit einem Rabbiner gefeiert, auch die Hawdala wird gemeinsam gemacht, allerdings erst am Montagmorgen. Die Kinder bekommen ausschließlich koschere Speisen, und vor dem Essen wird eine Bracha gesagt, ein Segensspruch.
Die Kitaleiterin würde gern Kontakt zu einem Partnerkindergarten in Israel knüpfen.
Zum Konzept gehört, dass alles sehr spielerisch, mit viel Gesang, Tanz und Frohsinn geschieht. Nichts werde forciert. «Uns ist es wichtig, dass die Kinder an den religiösen Aktivitäten Spaß haben und sie nicht als Pflichtgebot erleben», sagt Böczén. Wenn ein Junge sich zum Beispiel weigere, bei einer Zeremonie eine Kippa zu tragen, dann lasse man es dabei. «Da unser Ansatz mit viel Fröhlichkeit ausgesprochen altersgerecht ist, kommt das äußerst selten vor», fügt die Erzieherin hinzu.
Die religiösen Feierlichkeiten werden in der sogenannten Lernsynagoge abgehalten. Sie wird so genannt, denn obwohl eine alte Tora und ein Aron Hakodesch vorhanden sind, fehlt manches, was zu einer echten Synagoge gehört. Sie ist eher eine Mischung aus Bet- und Gruppenraum.
Eine richtige Synagoge sei den Kleinen dennoch vertraut, denn zum Unterricht gehören regelmäßige Auswärtsprogramme, was in anderen Kindergärten nicht oder nur selten der Fall ist. «Immer wieder machen wir Exkursionen, zum Beispiel ins Jüdische Museum, und wir nehmen jedes Jahr am sogenannten Judafest teil, den Budapester jüdischen Festspielen.»
BRÄUCHE In vielen Familien seien es gerade die Kinder, die den Eltern die jüdischen Bräuche beibringen, sagt Böczén. Auf die Frage, ob dies für nichtjüdische Familien ein Problem sei, erwidert Zsuzsa Böczén: «Ganz im Gegenteil! Den Eltern ist es bewusst, dass wir eine konfessionelle Gemeindeeinrichtung sind. Sie sind offen für unsere Sitten und freuen sich darauf, etwas Neues kennenzulernen. Oft belesen sie sich sogar.» Im Übrigen sei auch die Hälfte der Erzieherinnen nicht jüdisch. «Sie müssen die entsprechenden Bestimmungen lernen; wir jüdischen Kolleginnen sind da gern behilflich.»
Kontakt zu anderen jüdischen Kindergärten oder Schulhorten anderer Religionen unterhält Böczéns Einrichtung nicht. Allerdings tauscht man sich regelmäßig mit den Mitarbeiterinnen der Kitas der Nachbarschaft aus. Die Kinder von dort wurden sogar zur Chanukkafeier eingeladen.
Neben dem planmäßigen Programm werden von der Kita gegen eine eher symbolische Gebühr von umgerechnet fünf Euro fakultative Aktivitäten angeboten. Sehr beliebt sei Robotik, erklärt die Direktorin, wo sich die kleinen Teilnehmer schrittweise die Grundlagen der Kombinatorik aneignen. Dabei werde ihr räumliches Vorstellungsvermögen gefördert. Eine Biene muss auf einer Tafel eine festgelegte Route abfahren, wobei die Kinder ihre Bewegungen «programmieren» müssen. Das heißt, sie müssen im Voraus festlegen, wann das Bienchen nach links, rechts, vorwärts oder nach hinten rücken soll.
Zwei Kindergärtnerinnen haben am Budapester Rabbinerseminar studiert.
Ein anderer Kurs sei die Entwicklung verschiedener Fertigkeiten durch Bewegung. Dabei werden Lernen, Denkvermögen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Kreativität und vieles mehr begünstigt. «Ganz schön komplex!», räumt Böczén ein. «Auch wir brauchten eine dreitägige Fortbildung, um das üben zu können.»
anforderungen Wie es sich für einen jüdischen Kindergarten gehört, werden Tora-Kenntnisse vermittelt und Geschichten aus dem Talmud erzählt. Um den besonderen Anforderungen zu genügen, haben zwei Kindergärtnerinnen am Budapester Rabbinerseminar Liturgiegeschichte studiert.
Auch die religiösen Kurse laufen nicht streng schulisch, sondern spielerisch, und manchmal wird gebastelt. Einmal in der Woche findet Hebräischunterricht statt. Er wird von sogenannten Schinschinim ausgerichtet, israelischen Abiturientinnen, die vor ihrem obligatorischen Wehrdienst in jüdischen Gemeinden in aller Welt einen freiwilligen Zivildienst leisten.
Trotz der beachtlichen Errungenschaften legt die Kitaleiterin ihre Hände nicht in den Schoß, sondern denkt darüber nach, wie sie das Niveau ihrer Einrichtung weiter anheben kann. So wird im September eine der vier Gruppen in eine zweisprachige, ungarisch-englische umgewandelt, in der vormittags ausschließlich Englisch gesprochen werden soll. Mittelfristig könne sie sich auch vorstellen, Kontakt mit einem Partnerkindergarten in Israel zu knüpfen, sagt Böczén.
Vor einigen Wochen hat der Kindergarten sein 30-jähriges Bestehen gefeiert. «Eine Megafeier!», so Böczén. Im Mittelpunkt standen die Kinder, aber auch Persönlichkeiten aus Politik und Gemeinde waren eingeladen, und es spielte eine weltbekannte jüdische Band.