Gegenüber dem riesigen Souvenirladen des Paralympischen Dorfes steht vor den Masten mit den Landesfahnen ein durchsichtiges Kunstwerk aus Acryl. Auf ihm haben fast alle Athleten mit Namen unterschrieben – darunter auch einige auf Hebräisch. Es überrascht nicht, dass die meisten jüdischen Athleten bei den Paralympics – es sind insgesamt 25 – aus Israel kommen. Außer ihnen gibt es nur vereinzelt jüdische Sportler bei anderen Teams. Einer ist der Australier Adam Kellerman. Um den jungen Mann mit Dreitagebart zu sehen, muss man bis zum entferntesten Zipfel des Olympiaparks gehen. Dort liegt ein Tennisgelände, auf dem man auch mit dem Rollstuhl fahren kann, denn der Rasen im Stadion von Wimbledon hätte zu stark gebremst.
lärm Mit wahnsinnigem Lärm feiern die australischen Fans ihren Landsmann. Denn der hat gerade sein Match in zwei Sätzen gegen den Japaner Satoshi gewonnen. Draußen wartet Kellermans Mutter Ruth mit dem Rest der Familie.
Das Match ist vorbei. Adam Kellerman sieht erschöpft aus – und zufrieden. Er schildert Journalisten seinen Weg zum Hochleistungssport: »Ich war immer von Sport umgeben. Nach meiner Verletzung wollte ich einfach nur weitermachen.« Seine Mutter spricht davon, dass noch mehr in ihrem Sohn stecke, und wünscht für ihn ein Hochschulstudium. Hinter ihr rollt Kobi Wiener an, der Coach der israelischen Nationalmannschaft. Man begrüßt sich mit »Schalom« und schüttelt einander die Hände. Wiener trainiert das israelische Rollstuhltennis seit 1992. Hat sich der Sport seitdem verändert? »Die Rollstühle sind viel leichter und beweglicher geworden«, sagt er, und der paralympische Sport sei »inzwischen auf genauso hohem Niveau wie der olympische«.
Partystimmung Auf dem Spielfeld nebenan beginnt gerade einer der israelischen Tennisspieler mit seinem Match. Er verliert den ersten Satz gegen den Briten Jamie Burdekin. Da kommt bei den Anhängern des Gastgeberlandes Partystimmung auf, und die Zuschauertribüne füllt sich. Dann schreien die Anhänger des Israelis, darunter auch britisch-jüdische Jugendliche, die gerade noch Schulferien haben: »Kadima Noam, Tischbor oto!« (»Vorwärts, Noam, schlag ihn!«)
Noam Gershony (29), ebenfalls mit Dreitagebart, lächelt gelassen und bläst immer wieder Luft in seine rechte Hand, mit der er den Schläger hält. Dann findet er sein Spiel, und kein »Come on Jamie!« hilft mehr. Gershony ist im Viertelfinale. Die Zuschauer auf der Tribüne jubeln euphorisch und winken mit blau-weißen Fahnen.
Kämpfen kann Gershony. Er war früher Kampfpilot. Vor sechs Jahren stürzte er im Libanon mit seinem Apache-Helikopter ab, sein Kopilot kam dabei ums Leben. Nach langer Rehabilitation fand Gershony zum Rollstuhltennis. Daneben unterrichtet er sozial schwache Kinder in Mathematik, darunter auch arabische Israelis
»Muss man als professioneller jüdischer Sportler am Schabbat spielen?«, wird er gefragt. Gershony nickt. Sonst könne man in der Rankingliste nicht hochkommen.
Genau das ist für Mike und Gemma Levin, die mit ihren vier Kindern neben dem Spielfeld stehen, aber ein Problem. Mike ist kompromisslos: »Erst wenn die Kinder erwachsen sind, dürfen sie selbstständig über den Schabbat entscheiden.« Auf die Frage, welches Land sein Sohn unterstütze, zeigt der kleine Naftali auf sein T-Shirt und erklärt stolz: »Team GB!«
Beim Quads-Singles-Viertelfinale ist aber nur noch ein Brite dabei, zwei weitere Spieler kommen aus Israel, drei aus den USA und einer aus Schweden. Man kann annehmen, dass die jüdischen Tennisspieler Medaillen nach Israel schleppen werden.
rudern Dafür reichte bei den israelischen Ruderern, die in Eaton bei Oxford an den Start gingen, die Leistung nicht ganz. Im Einzelrudern erreichte Moran Samuel aber zumindest den vierten Platz. Sie war früher Basketballnationalspielerin. Doch eines Tages diagnostizierten die Ärzte bei ihr eine Rückenmarksverletzung, verursacht durch eine geplatzte Ader. Daraufhin verlor Samuel die Kontrolle über ihre Beine. Obwohl sie danach zum Rollstuhlbasketball tendierte, überredete ihre spätere Lebenspartnerin sie, es doch wegen ihrer langen Arme mit dem Rudern zu versuchen.
Das war vor weniger als zwei Jahren – eigentlich viel zu wenig Zeit, um sich richtig vorzubereiten. Dennoch fehlte ihr nur eine Sekunde bis zur Medaille. An dieser Sekunde will sie bis zu den nächsten Paralympics 2016 in Rio de Janeiro hart arbeiten. Samuel spricht begeistert von unzähligen freundschaftlichen Begegnungen mit anderen Athleten in London.
Weitere jüdische Sportler bei den Paralympics sind der US-Tischtennisspieler Thal Leibowitz, der kanadische Rollstuhltennisspieler Joel Dembe und der argentinische Judoka Jose David Effron, der in seiner Klasse Silber gewann. Die israelischen Schwimmer Itzhak Mamistvalov und Inbal Pizaro belegten den dritten Platz.
Inzwischen kommt wieder Partystimmung in Eaton auf. Der ehemalige Weltranglistenerste Shraga Weinberg schafft es gerade ins Tennis-Viertelfinale. Er siegt in zwei Sätzen gegen den Schweden Marcus Jonsson. Jetzt sind drei Israelis im Viertelfinale. Bei so viel Erfolg ist inzwischen auch die israelische Presse eingetroffen und interviewt fleißig. Auf dem Olympiagelände in Eaton wird Hebräisch gesprochen. Weinberg lässt sich von den Anhängern feiern. Aber etwas unterscheidet ihn von den anderen jüdischen Tennisspielern: Er hat keinen Dreitagebart.