Österreich

Spiegel Europas

Die Empathie, das Erkennen und Begreifen der Wesensart anderer, mag man heute als programmatische Zielrichtung für Österreich und für Europa auffassen. Foto: Getty Images

Die Republik Österreich hat turbulente Jahre hinter sich. Auf Flüchtlings- und Regierungskrisen folgte die Corona-Pandemie, die eine gesellschaftliche Polarisierung sowie eine so große Zahl an Querdenkern, Rechtsradikalen und Verschwörungstheoretikern wie kaum anderswo in Europa offenbarte. Zurzeit erleben wir einen Spionageskandal, der das Land bis in die Grundfesten erschüttert.

Trotzdem oder gerade deswegen versucht die konservative ÖVP, durch eine von ihr lancierte Debatte über eine »österreichische Leitkultur« von den zahlreichen Problemen und von ihren schlechten Umfragewerten abzulenken. Im Juni stehen Wahlen zum EU-Parlament, im September Nationalratswahlen an. Ob die ÖVP danach noch den Kanzler stellen wird, ist fraglich.

Die »Leitkultur-Debatte« hat sich als Flop erwiesen. Die meisten Menschen reagierten darauf mit Häme und Spott. Die Satire hat Hochkonjunktur. Darstellungen von dunkelhäutigen oder vermeintlich orientalischen Menschen in Trachtenanzügen, Sprüche wie »Tradition statt Multikulti« oder »Blunznfett statt Mohammed« machen die Runde. (»Blunznfett« ist Wiener Dialekt für »sturzbetrunken«.) Sogar viele Konservative und Brauchtumsträger wollen mit dieser Debatte nichts zu tun haben. Blasmusikkapellen verwehren sich gegen die Vereinnahmung und wollen nicht als Träger des Klischees einer vage umrissenen »Leitkultur« fungieren.

Sie waren Tiroler, Wiener, Steirer, Kärntner

Was soll der Begriff überhaupt bedeuten? Geht es dabei um Brauchtum, um Sprache oder um bestimmte Gepflogenheiten des Alltags? Welche Kultur »leitet« uns wohin? Schon die Antwort darauf, was für Österreich typisch sei und was seine Identität ausmache, ist ungleich schwerer zu finden als im Falle der meisten anderen europäischen Länder. Eine österreichische Identität als Volk im modernen Sinne ist erst in den letzten 80 Jahren entstanden.

Davor fühlten sich die meisten Bewohner des heutigen Österreich in erster Linie einer Region zugehörig: Sie waren Tiroler, Wiener, Steirer, Kärntner. In zweiter Linie fühlten sie sich als Deutsche, auch dann, wenn ihre Eltern und Großeltern noch Tschechisch, Ungarisch oder Italienisch gesprochen haben oder wenn sie jüdischen Glaubens waren. Österreich – das war der Staat, das Herrscherhaus und die monarchistische Idee hinter einem Vielvölkerreich, die es aber letztlich nicht vermochte, auf Dauer integrativ und bewusstseinsstiftend zu wirken. Noch in den 30er-Jahren bezeichnete sich Österreich als »zweiter deutscher Staat«.

In dem 1919 von Österreich abgetrennten Südtirol versteht sich die deutschsprachige Bevölkerung sogar heute noch als »deutsch«. In Nordtirol jedoch wird kein Einheimischer mehr behaupten, ein Deutscher zu sein. Süd- und Nordtiroler haben eine sie verbindende Zugehörigkeit: Sie sind Tiroler. Dass die einen Deutsche und italienische Staatsbürger, die anderen Österreicher sind, steht für sie offenbar in keinem Widerspruch dazu.

Für viele ist Österreich eine Hülle, die noch mit Inhalt gefüllt werden muss.

Das verbindende Element der meisten Nationen ist, neben klassischen Faktoren wie Sprache, Kultur und Aspekten einer gemeinsamen historischen Erfahrung, vor allem ein Narrativ; eine identitätsstiftende Erzählung, ein Gründungsmythos, der gemeinsame Werte und ein kollektives Gedächtnis erschafft: die Französische Revolution in Frankreich, der Unabhängigkeitskrieg, die Entstehung der Verfassung und der Bürgerkrieg in den USA, der Große Vaterländische Krieg in Russland, das Bewusstsein, einer jüdischen Schicksalsgemeinschaft anzugehören, in Israel. In der Ukraine entsteht gerade durch den Verteidigungskrieg gegen Putins Eroberungsfeldzug ein Gemeinschaftsgefühl, das es zuvor in dieser intensiven Form nie gegeben hat.

In Österreich gibt es solche Narrative ebenfalls, aber sie sind zu schwach, um wirklich identitätsstiftend zu sein. Der Vielvölkerstaat der Donaumonarchie ist gescheitert und untergegangen, die großen, klingenden, meist jüdischen Namen des alten Wien wie Sigmund Freud, Joseph Roth, Jura Soyfer oder Karl Kraus wurden in Wien angefeindet, sind in vielen Fällen verfolgt und vertrieben worden; die NS-Zeit zwischen Anpassung und Opposition, Verfolgung und Mittäterschaft ist gerade angesichts der langen Zeit des Schweigens nach 1945 heute allenfalls ein Grund, um sich entweder abzugrenzen, oder aber immer noch, um zu verdrängen und zu verharmlosen.

Die Neutralität wird von der Mehrheit befürwortet, ist aber längst beinahe inhaltsleer und bedeutungslos geworden. Die nach dem Krieg von oben forcierte »Austrifizierung« des Landes mit dem beschworenen Bild einer ideologisch verbrämten Vergangenheitsidylle, die es nie gegeben hat, mit Landschaftsbegeisterung und Brauchtumspflege und einer ostentativen Abgrenzung von Deutschland, vermochte es nie, ein modernes Österreichbild zu erschaffen.

Irgendwo zwischen Mozartkugel, den großen Skilegenden des vorigen Jahrhunderts, der Wiener Gemütlichkeit, von der man in Vorarlberg oder Tirol allerdings wenig merkt, dem »Schmäh« und der stolz verkündeten Phrase, Hitler sei zwar Österreicher gewesen, habe aber nur in Deutschland Kanzler werden können, bleibt so manchen Österreichern nicht viel mehr als das Schmunzeln über die Karikatur der eigenen Seele.

»Treuhänder der gesamten kultivierten Menschheit«

Der österreichische Schriftsteller Anton Wildgans (1881–1932) beschwor in seiner berühmten »Rede über Österreich« schon im Jahre 1929 den »österreichischen Menschen«, doch meinte er damit vor allem Einwohner der Weltstadt Wien, welcher er zu Recht eine jahrhundertelange internationale Tradition zusprach. Wenn er dabei »den Österreicher« (Wiener!) als »Treuhänder der gesamten kultivierten Menschheit« bezeichnet, klingt das inzwischen unfreiwillig komisch, auch wenn Wien heute sicher internationaler ist als vor 95 Jahren.

Österreich ist aber nicht nur Wien. Das Land in seiner Gesamtheit war damals und ist heute immer noch vor allem Provinz. Wildgans sprach von einer österreichischen »Schule des übernationalen, auf eine universelle Idee gerichteten Denkens«. In Reutte, Radstadt, St. Veit an der Glan oder Laa an der Thaya klingen türkische, arabische oder ukrainische Namen aber auch heute noch fremd, und in inneralpinen Tälern werden Dialekte gesprochen, die anderswo niemand versteht.

Vielleicht ist es ja gerade das Heterogene, das Ambivalente und Uneindeutige, das Österreich seit jeher für Chauvinismus, Antisemitismus und Rechtspopulismus so anfällig macht. Die Verteidigung des Lokalen gegen eine als bedrohlich erlebte Außenwelt ist gerade dann besonders vehement, wenn das Lokale nicht in etwas Größeres eingebettet ist, das einem Halt und Sicherheit gibt. Viele Franzosen mögen stolz darauf sein, einer »Grande Nation« anzugehören, und diese ist willens, Zuwanderer, Fremde und alle in Frankreich geborenen Kinder als Einheimische anzusehen und zu integrieren, sobald sich diese zu Frankreich bekennen und gewisse Regeln akzeptieren. Das ist möglich, weil das Land und der Staat und die Idee dahinter als wertvoll angesehen werden. Das Nationale überdacht das Lokale und macht so Vielfalt akzeptierter und lebbarer. Dass dies gerade in Frankreich nicht immer gelingt, ändert nichts an der Grundhaltung.

Formbare Nation

Wenn die primären Bezugspunkte aber das eigene Tal, der lokale Dialekt und ein vergleichsweise rigides, klar definiertes Verhalten im Alltag sind, macht dies die Integration von Zugereisten erheblich schwieriger, weil man ihnen viel abverlangt, dabei aber ihr Fremdsein trotzdem niemals vergisst. Was über ein Tal gesagt wurde, gilt genauso oder zumindest so ähnlich für einen Wiener Gemeindebau oder eine Stadtrandsiedlung.

So ist dieses Österreich für viele Menschen nichts weiter als eine administrative und politische Einheit, deren Existenz selbstverständlich, aber weitgehend emotionslos akzeptiert wird, eine Hülle, die – wenn man will – noch mit Inhalt gefüllt werden kann. Die Republik Österreich ist jung. Die österreichische Nation ist noch jünger und bleibt formbar wie kaum eine andere auf unserem Kontinent.

Dass sich hier Sprachen und Religionen begegnen, könnte wegweisend sein.

Ist Österreich aber nicht auch ein Spiegel Europas? Es ist ein Land, das fast alle seine Landschaften mit Ausnahme des mediterranen Südens auf seinem kleinen Territorium vereint – von den Hochalpen und engen Tälern bis zur Steppe, zu Wäldern, Seen, Weingebieten, Flüssen und Aulandschaften, vom pittoresken Westeuropa an der Schweizer Grenze bis zum Balkan und Osteuropa an der Grenze zu Ungarn und Slowenien, von der sibirischen Kälte des Waldviertels bis zur beinahe italienischen Lieblichkeit des Wörthersees.

Österreich hat eine Metropole von Weltrang – eine Millionenstadt mit der höchsten Lebensqualität der Welt –, aber auch wilde Landschaften von umwerfender Schönheit und Einöden von überwältigender Tristesse. Hinzu kommt eine außerordentlich hohe Flüchtlings- und Zuwanderungsrate, die das Land nachhaltig prägt und verändert. Österreich war aufgrund seiner geografischen Lage Endpunkt der sogenannten Balkanroute für Geflüchtete während der Flüchtlingskrise 2015/16 und ist heute noch das Tor nach Mittel- und Westeuropa.

Friedrich Dürrenmatt schrieb einmal, der Kanton Bern bilde sowohl landschaftlich als auch kulturell die Schweiz im Kleinen ab. Analog dazu kann man behaupten, Österreich bilde Europa im Kleinen ab. Dies gilt neben anderen Faktoren auch für die Mentalität. So wie Europa immer noch in eine Anzahl von Staaten und Regionen zerfällt, mit denen sich die Menschen identifizieren, während Europa als Idee, Konzept und als gemeinsame Heimat eher vage bleibt, werden Wiener, Tiroler oder Kärntner sich in den meisten Fällen schwertun zu erklären, was sie zu Österreichern macht, während die lokale Zugehörigkeit eindeutig ist.

Darin liegt aber die Chance, die noch fehlenden Inhalte, Werte und Narrative für den »nationalen Überbau« zu finden. Vielleicht könnte Österreich zu einem Experimentierfeld und irgendwann sogar zu einem Vorbild für Europa werden. Dass sich in der Mitte Europas Kulturen, Sprachen und Religionen begegnen, dass hier ständig Konflikte ausgetragen, aber auch Gemeinsamkeiten gefunden wurden, könnte wegweisend für die Zukunft sein.

An der Durchführung des Holocaust beteiligt

Zum Abschluss ein weiteres Zitat aus Anton Wildgans’ »Rede über Österreich«: »Das Unheil, das immer wieder in Gestalt von Kriegen (…) die Welt überflutet, es stammt zumeist von dem Mangel an Psychologie, (…) von der Trägheit der Geister und der Herzen, die sich mit bloßen Gerüchten über den anderen und mit Lügen über den anderen begnügen, anstatt ihn zu erkennen und dadurch in seiner Wesensart, in seinen Leidenschaften, Empfindlichkeiten und Ansprüchen zu begreifen. Dieses Erkennen und Begreifen ist sozusagen die historische Natur des österreichischen Menschen.«

Anton Wildgans konnte nicht ahnen, dass zehn Jahre später viele dieser österreichischen Menschen Juden mit beispielloser Brutalität durch die Straßen von Wien und anderer Städte jagen, sie misshandeln und ermorden würden, dass sie Synagogen niederbrennen und sich an der Planung und Durchführung des Holocaust beteiligen werden. Doch die Empathie, von der Wildgans sprach, das Erkennen und Begreifen der Wesensart anderer, mag man heute, fast 100 Jahre später, als programmatische Zielrichtung für Österreich und für ganz Europa auffassen.

Der Autor ist Schriftsteller und wurde 1966 in Leningrad geboren. Er lebt seit 1981 in Österreich. Zuletzt erschien sein Roman »Die Heimreise« (Residenz Verlag).

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