Die Bilder, die uns in diesen Tagen aus Amerika erreichen, zeigen einen strahlenden Präsidenten. Medien berichten von der Wahl und neuen Herausforderungen für die Regierung. Kein Wort mehr von »Sandy«, dem Supersturm, der große Teile der amerikanischen Ostküste binnen zweier Tage in ein Katastrophengebiet verwandelte. Zurück zur Normalität? Der Schein trügt. »Sandy« mag von den Fernsehbildschirmen und den Titelseiten der Zeitungen verschwunden sein, für die Bewohner der schwer getroffenen Gebiete in New Jersey und New York ist der Hurrikan noch nicht Geschichte. Jetzt, zwei Wochen nach den verheerenden Wind- und Wassermassen, wird das Ausmaß der Zerstörung erst richtig sichtbar.
Immer noch werden Tote in den Trümmern gefunden, versuchen Besitzer der zerstörten Häuser, Wertgegenstände zu retten. Viele, die noch ein Dach über dem Kopf haben, waren tagelang ohne Strom, Heizung und Warmwasser. Benzin ist immer noch knapp. Das jüdische Leben befindet sich im Ausnahmezustand.
kerzen »Viele Synagogen in der Region sind zerstört oder haben keinen Strom«, erzählt der New Yorker Morris Faitelewicz. »Die kleineren Synagogen bleiben geschlossen. Man schickt die Leute zu den größeren Synagogen, wo man Kerzen oder LED-Lampen benutzt. Einige Rabbiner bieten Gottesdienste zu Hause an oder laden Gemeindemitglieder zum Übernachten ein. Man versucht, sich gegenseitig zu helfen«, sagt Faitelewicz.
Ältere oder gebrechliche Menschen, die in Hochhäusern wohnen, in denen die Fahrstühle nicht funktionieren, sind auf freiwillige Helfer angewiesen, die sie nach unten und wieder hinauf begleiten oder sie mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Organisationen versuchen, Bedürftige mit koscheren Lebensmitteln zu beliefern. Zahlreiche Menschen wiederum mussten verdorbene Lebensmittel wegwerfen – für viele eine finanzielle und psychologische Belastung.
Eine weitere Sturmwarnung legte die Nerven der New Yorker blank: »Es wurden heftige Winde und Schneefall vorhergesagt – das machte die Menschen noch nervöser, als sie ohnehin schon waren«, erzählt Faitelewicz.
aufregung Die New Yorkerin Jennifer Sion hat den Sturm zwar mit viel Aufregung, glücklicherweise aber ohne großen materiellen Schaden überstanden. Ihre Familie beherbergt acht bis zehn weitere Personen, die seit zwei Wochen ohne Strom, Wasser und Heizung sind. »Es ist wie in einem Kriegsgebiet«, sagt Sion, »die Menschen haben großen physischen und emotionalen Schaden erlitten.« Die Gemeinschaft sei aber stark und versuche zu kämpfen. »Doch die Menschen sind frustriert, weil ihnen die Hilfe nicht schnell und umfassend genug ist. Die Versicherungen lehnen Ansprüche ab, und niemand von offizieller Seite ist da, um die Geschädigten zu unterstützen«, sagt Sion. Ihre Freundin Chaja hat durch den Sturm ihr Haus verloren und musste bei einer anderen Freundin Unterschlupf finden.
Flexibilität mussten am Wochenende auch die Organisatoren der Chabad-Jahreskonferenz beweisen. Sie waren gezwungen, das Festbankett am letzten Konferenztag mit bis zu 5000 Teilnehmern von Brooklyn nach Manhattan zu verlegen. »Große Teile des Brooklyn Cruise Terminal, wo das Bankett ursprünglich geplant war, sind überflutet«, sagt Rabbiner Lita Brennan, der die Konferenz koordiniert. »Außerdem wird das Terminal von der Regierung genutzt, um Rettungs- und Vorratsboote in die vom Sturm betroffenen Gebiete von Staten Island zu schicken – so mussten wir ausweichen.«
Änderungen gab es auch im Programm der Konferenz: Hunderte von Freiwilligen erklärten sich spontan bereit, den betroffenen Gemeinden zu helfen. Abgesagt hat keiner der Schluchim – »allerdings sind einige in verschiedenen amerikanischen Städten gestrandet und mussten dort übernachten, aber sie konnten mit Mietwagen rechtzeitig vor Schabbat nach New York gebracht werden«, sagt Brennan.
obdachlos Chabad-Rabbi Eli Goodman aus Long Beach hat ganz andere Sorgen. »Sandy« zerstörte nicht nur seine Synagoge, sondern auch seine Wohnung. Möbel und Gebetbücher – alles wurde unter Wasser und Sand begraben. Goodman und seine Frau haben sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht, doch jetzt sind sie obdachlos. »Das Wasser stand zwei Meter hoch«, sagt Goodman. »Wir haben alles verloren.«
Die Hilfsaktionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft laufen auf Hochtouren. Hunderte von freiwilligen Helfern versorgen Bedürftige mit dem Notwendigsten. Die UJA-Federation (United Jewish Appeal) stellte zehn Millionen Dollar als Sofort- und Wiederaufbauhilfe zur Verfügung. Im Hurricane Sandy Relief Fund der Jewish Federations of North America (JFNA) kamen innerhalb einer Woche mehr als 245.000 Dollar aus privaten Spenden zusammen. Damit werden Lebensmittel, Aufräumarbeiten und die notwendigsten Hilfsgüter finanziert.
Die jüdische Organisation Bend the Arc widmete ihren Hilfsfonds speziell der Unterstützung von Newark (New Jersey) – für die Versorgung mit knappen Gütern wie Windeln, Medikamenten und Benzin sowie für den langfristigen Wiederaufbau der zerstörten Region. »Unsere Motivation ist der jüdische Auftrag, für Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen«, sagt Sprecherin Regina Weiss. Das American Jewish Committee gab 50.000 Dollar an das amerikanische Rote Kreuz. Und auch jüdische Gruppen aus Washington und anderen Städten schickten Hilfslieferungen und Einladungen.
Die Juden in Brooklyn, Long Island und anderen hart getroffenen Gebieten leiden, aber sie geben nicht auf. »Wir sind zuversichtlich«, sagt Rabbi Goodman. »Mit G’ttes Hilfe werden wir es schaffen.«