»Ich war seit Tagen sehr aufgeregt, weil ich hoffte, endlich auf die Bima der Großen Synagoge zu stoßen«, erinnert sich der israelische Archäologe Jon Seligman. Aber je tiefer er grub, umso enttäuschter war er. Hatte er sich verrechnet?
Noch mutloser wurde er, als plötzlich ein Mitarbeiter in drei Metern Tiefe behauptete, auf einen Betonpfeiler gestoßen zu sein. »Aber dann packte mich mein Ehrgeiz. Ich bin zu jener Stelle geklettert und habe weiter gegraben. Plötzlich entdeckte ich, dass es sich nicht um modernen Beton, sondern um jahrhundertealte Ziegel handelte. Ich war überwältigt. Wir hatten es geschafft. Wir hatten tatsächlich die historische Bima der Großen Synagoge von Wilna entdeckt. Meine Vermutungen waren richtig gewesen.«
DENKMALSCHUTZ Die Ausgrabungen in der litauischen Hauptstadt Vilnius wurden auch von Martynas Uzpelkis überwacht. Er ist Denkmalschützer und betreut die jüdische Gemeinde Litauens. Vor einigen Monaten konnte er mit eigenen Augen verfolgen, wie Archäologen die Bima der Großen Synagoge aus dem 16.Jahrhundert freilegten.
»Mir wurde plötzlich bewusst, dass diese Stadt einmal von Juden geprägt worden war. Ich weiß, dass die meisten der 220.000 litauischen Juden im Holocaust von deutschen Nazis und litauischen Kollaborateuren ermordet wurden.«
Vor dem Einmarsch der deutschen Truppen war die Große Synagoge von Wilna das größte jüdische Bethaus Litauens. Im Krieg zerstört, musste ihre Ruine im Sozialismus dem Bau einer Grundschule weichen. Litauen war Sowjetrepublik, und die Schoa wurde von den Kommunisten nicht öffentlich thematisiert.
Vor dem Einmarsch der deutschen Truppen war die Synagoge die größte in Litauen.
Mittlerweile hat sich die Lage geändert. Vor 27 Jahren erlangte Litauen seine Unabhängigkeit. Der demokratische Staat gehört inzwischen zur Europäischen Union und ist um die Erforschung und Dokumentation der jüdischen Geschichte des Landes bemüht.
Für Jon Seligman aus Jerusalem ist dies genau das richtige Klima, um aktiv zu werden. Auf dem Schulhof, dort, wo die litauischen Kinder vor Kurzem noch ihr Pausenbrot gegessen hatten, setzte der Archäologe vor zwei Jahren zum ersten Mal den Spaten an – um Mauerreste freizulegen und diese mit einem Pinsel von Erde und Sand zu befreien.
MIKWE Bereits im Sommer 2017 entdeckten Archäologen die Mikwe der Männer neben dem Tauchbad der Frauen. Sie gruben im Auftrag der israelischen Altertumsbehörde und unter Federführung der litauischen Kollegen vom Institut für Geschichte.
Vilnius wurde als Jerusalem des Nordens bezeichnet, weil es ein Zentrum spirituellen jüdischen Lebens war.
Weil in Litauen nur wenige Synagogen den Holocaust überdauert haben, sei es geradezu seine Pflicht, die Erinnerung an das jüdische Leben im Land wachzurufen, sagt Seligman. Dabei sei die prächtige Große Synagoge nicht nur die geistige und gegenständliche Heimat des Gaon von Wilna gewesen, sondern auch das wichtigste Bauwerk des litauischen Judentums.
»Unsere Ausgrabungen, die gemeinsame Arbeit von Archäologen, Historikern und Architekten, bieten uns außerdem die Möglichkeit, mehr über die Strukturen der Synagoge und ihrer umliegenden Gebäude zu erfahren. Und wir schlagen die Brücke zu unserem jüdischen Erbe außerhalb Israels«, fügt Seligman hinzu. Begrüßt wird Seligmans Engagement auch von Emanuelis Zingeris, der sich im litauischen Parlament für eine Neubewertung der jüdischen Kultur im Land einsetzt. Die Entdeckung der Bima spiele dabei eine wesentliche Rolle, sagt er.
ARON HAKODESCH Nachdem kürzlich das frühere Königsschloss im Zentrum der Hauptstadt wiederaufgebaut wurde, müsse nun auch die Große Synagoge neu entstehen, sagt Zingeris. »Sie ist ein Beweis für das 700-jährige jüdische Leben in Litauen.« In den umliegenden Stadtvierteln hätten viele kleinere Bethäuser gestanden, aber in der Großen Synagoge habe das Herz geschlagen. »Hier stand der große Aron Hakodesch. Er befindet sich jetzt im Jüdischen Museum, stand aber jahrhundertelang in der Synagoge und war ein Leitstern für die Juden in aller Welt. Er stand weder in Paris noch in London – sondern hier in Vilnius.«
Vor Ort werden die Ausgrabungen auch von Justinas Racas überwacht. Der litauische Archäologe unterstützt den Plan, die Große Synagoge wiederaufzubauen, weil Litauens Hauptstadt dadurch zu einem Touristenmagneten werden könnte.
Noch habe er nur 40 Prozent der Bima ausgegraben, sagt Seligman.
»Vilnius wurde als Jerusalem des Nordens bezeichnet, weil es ein Zentrum spirituellen jüdischen Lebens war«, sagt Zingeris. »Als wir mit den Ausgrabungen begannen, war nicht klar, ob wir überhaupt genügend Mauerreste finden würden und das Schulgebäude tatsächlich abreißen müssten. Aber jetzt, nach dem Fund der Bima, sind wir uns sicher, dass sehr viel von der Synagoge unter der Erde erhalten ist.«
HÜRDEN Tatsächlich sei sein Projekt nicht ohne Hindernisse an den Start gegangen, verrät Jon Seligman. Der Archäologe musste vor drei Jahren die Vorarbeiten aus eigener Tasche mitfinanzieren, da die Zuschüsse aus den USA und Litauen nicht ausgereichten. Nach ersten Erfolgen konnte er allerdings neue Geldgeber für die Ausgrabungen gewinnen.
Jetzt ist Seligman überzeugt, dass er gerade durch die Entdeckung der Bima weitere Sponsoren finden wird, um die Arbeit fortsetzen zu können. Noch habe er nur 40 Prozent der Bima ausgegraben, sagt er. Außerdem sucht er Überreste der Außenmauern und hofft sogar, auf Teile des Bethauses des Gaons von Wilna zu stoßen.
»Mit unseren Ausgrabungen verfolgen wir allerdings auch ein rein emotionales Ziel. Noch im Jahr 1900 war jeder zweite Einwohner von Vilnius jüdisch. Die Hälfte der Bürger identifizierte sich also mit der Großen Synagoge. Deshalb wollen wir der Stadt Vilnius jetzt ein Symbol ihrer Geschichte zurückgeben.«