Was auffällt, wenn Ben Glassberg dirigiert, ist sein glückliches Gesicht. Alles an dem 30-Jährigen scheint »in der Musik« zu sein, wenn er arbeitet. Und das war schon immer so: Als Jugendlicher gründete er das London Youth Symphony Orchestra, das mit einer wilden Aufführung von Vivaldis Gloria für Aufmerksamkeit sorgte, dann gelang ihm mit Mozarts La clemenza di Tito im britischen Glyndebourne der internationale Durchbruch.
Von 2019 bis 2021 war Glassberg Chefdirigent der Glyndebourne Tour, und noch bis 2026 ist er Musikdirektor am Staggione-Haus im französischen Rouen. Aber er hat seine Koffer bereits gepackt. Seit Januar ist er nämlich auch Chefdirigent an der Volksoper in Wien. Und die Stadt an der Donau soll seine neue Heimat werden.
Glassberg passt perfekt zum Wiener Opernhaus, das gerade seine jüdische Tradition entdeckt. Zum 125. Jubiläum des Hauses hat sich Intendantin Lotte de Beer etwas Besonderes einfallen lassen. Der Abend »Lass uns die Welt vergessen« zeigt die Proben zur Operette Gruß und Kuss aus der Wachau im Jahre 1938, als zur gleichen Zeit Hitler in Österreich einmarschierte.
Gedemütigt, rausgeworfen, vertrieben oder ermordet
Damals solidarisierte sich ein Teil des Ensembles mit den Nazis. Die Protagonisten der jüdischen Austro-Operette, Komponisten, Librettisten und Darsteller wurden gedemütigt, rausgeworfen, vertrieben oder ermordet. Ein Abend, der das Publikum mit einem gespenstischen Tanz zwischen Walzerseligkeit und blutiger Brutalität schockiert. Der End-Applaus klingt wie ein kollektiver Protest gegen das dunkle Gestern im bunten Heute. Jeder Abend wird zu einer Erinnerung, wie nahe uns die Geschichte in unserer Gegenwart ist. Selten bewegt Theater tiefer.
Er will die Volksoper zu einem der großen europäischen Theater machen.
Die Grundidee von De Beer ist es, die Oper wieder zu einem Spiegel der vielfältigen und diversen Wiener Gesellschaft zu machen. Ihr Spielplan bedient auf der einen Seite das traditionelle Volksopern-Publikum mit turbulenten Operetten und spektakulären Musicals, öffnet sich aber auch einer jungen Gesellschaft und lockt durch diverse Lebensfreude die bunte Wiener Bohème. Das Volk, das die Wiener Volksoper langsam für sich entdeckt, ist sowohl hetero als auch schwul oder lesbisch, ist christlich, muslimisch, jüdisch oder ohne Bekenntnis. Im Vordergrund steht der Glaube an die Größe und die Vielfalt der Musik.
Natürlich weiß Lotte de Beer, dass dieses »Update« der alten Oper nur aus dem Haus heraus funktioniert, mit den passenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Gegen eine breite Protestwelle hat sie sich am Anfang ihrer Amtszeit von einem großen Teil des alten Ensembles getrennt und junge, lustvolle Menschen um sich geschart.
An der musikalischen Spitze stand bis Ende des vergangenen Jahres ihr Vertrauter, der israelische Dirigent Omer Meir Wellber. Einer, der klassische Musik gern gegen den Strich bürstet, der sich einmischt, die Bühne als Debattenraum versteht, der die Zerrissenheit seiner jüdischen Identität in einem Buch (Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner) thematisiert und ganz aktuell in einem Essay zur Situation in Israel Stellung nahm, als er die Hamas und Benjamin Netanjahu gleichsam als »Gefahr für Israel« definierte. Aber Wellber zieht es nun von Wien an die Staatsoper nach Hamburg.
Enger Vertrauter von Omer Meir Wellber
In Glassberg hat De Beer seinen Nachfolger gefunden. Der war zuvor erster Gastdirigent am Haus. Zudem ist Glassberg seit Jahren ein enger Vertrauter von Meir Wellber, agiert aber leiser, weniger öffentlichkeitswirksam und vielleicht auch etwas näher am Ensemble. So wie Meir Wellber ist Glassberg auch Jude, thematisiert seine Religion aber nicht und sagt über sich selbst, dass er seinen Glauben eher nicht praktiziere.
Der junge Brite hat gerade das Dirigat von Leonard Bernsteins West Side Story übernommen: schmissig, rasant, bejubelt. In Zukunft will er auch Musicals von Stephen Sondheim ins Programm heben, ebenso wie italienische oder französische Opern, die bisher kaum eine Rolle an der Volksoper gespielt haben. Sein Ziel sei es, »die Volksoper zu einem der großen europäischen Theater zu machen«. Grundlage für den Erfolg ist die Stimmung am Haus: »Die Vielfalt der Arbeit, die wir leisten, verleiht der Volksoper eine wirklich einzigartige Qualität – ein Haus, das Oper, Musicals, Operette und Ballett auf hohem Niveau spielen kann, ist so selten.«
Die Wiener Volksoper ist zur Heimat ganz unterschiedlicher Musik-Macher geworden.
Die Wiener Volksoper ist zur Heimat ganz unterschiedlicher Musik-Macher geworden. Neben Glassberg dirigiert hier auch der junge Österreicher Tobias Wögerer und die israelische Dirigentin Keren Kagarlitsky, die für Lass uns die Welt vergessen Musik komponiert hat, die virtuos und unter der Haut zwischen Musical-Tschingderassa-Bumm und wummerndem Welt-Drama pendelt.
Studium in Cambridge und an der Royal Academy of Music
Glassberg wurde 1994 in London geboren und studierte in Cambridge und an der Royal Academy of Music. Dass er seine musikalische Karriere als Perkussionist begann, findet er hilfreich für seine Arbeit: »Gerade in Werken mit schwierigen Rhythmen wie von Birtwistle ist es gut, die Perkussion-Erfahrung zu haben und den Überblick zu behalten.«
Für trommelnde Dirigenten gibt es mit Simon Rattle ja auch ein großes, britisches Vorbild. Seinen »signature approach« zum Dirigieren erklärt Glassberg so: »Hohe Präzisionsstandards und Begeisterung für Farbe und Drama«. Er will Spaß bei den Proben verbreiten und gleichzeitig hohe Standards einfordern. »Es ist ein wirklich schwerer Balanceakt«, sagt er. Aber nirgendwo kann er diesen Drahtseilakt derzeit wohl so begeisternd verwirklichen wie an der Volksoper in Wien.