Erwartungsvoll blickt die Menge vor dem Stadthaus in Richtung der Bühne, als Yanki Jacobs zu sprechen beginnt. »Junge Leute aus unserer Gemeinschaft fragen mich fast jeden Tag, ob es in den Niederlanden noch eine Zukunft für sie gibt«, beginnt der Rabbiner, der selbst erst Mitte 30 ist, seine Rede. »Kann ich mich hier noch sicher fühlen, 2025, 2030, 2035? Was soll ich antworten?« Er macht eine Pause.
Es ist, als ob seine Worte hängen bleiben in der kalten Luft zwischen dem Stadthaus und der Amstel, über israelischen Fahnen und Schofar-Hörnern, die zwischen den Rednerinnen und Rednern immer wieder geblasen werden. Für Hunderte von Menschen, die sich an diesem Novemberabend hier versammelt haben, ist die Antwort klar. »Wir stehen neben unseren Juden« ist das Motto der Demonstration gegen Antisemitismus, zu der eine Vielzahl jüdischer und christlicher Organisationen gemeinsam aufgerufen hatte.
Nach 43 Jahren fragt sich der Restaurantbesitzer, ob es nicht Zeit sei, ganz wegzugehen.
Ein Zeichen soll es sein, ein Bekenntnis zu »Nie wieder«, wie es auf zahlreichen Plakaten steht, eine unmissverständliche Ansage genau drei Wochen, nachdem israelische Fußballfans durch die Straßen derselben Innenstadt gejagt, geprügelt und getreten wurden. Auf den ersten Blick wirkt das beeindruckend: Der Vorplatz des Rathauses ist brechend voll.
Doch der Platz ist nicht besonders groß, und was sind fünf-, sechs- oder siebenhundert Leute in einer Stadt von mehr als 900.000 Einwohnern? Die sich selbst in ihrer populären Kultur, in Dialekt, Liedern und Gedichten, gerne und stolz Mokum nennt, so wie es ursprünglich ihre Jüdinnen und Juden taten? Und deren Bürgermeisterin es als nicht sicher erachtet, auf dem zentraler gelegenen Dam-Platz zu demonstrieren, und die Kundgebung darum hierher verlegte?
David Shemesh ist, was die jüdische Zukunft in Amsterdam betrifft, zunehmend skeptisch. »Ich habe erwartet, dass so etwas irgendwann passiert, aber nicht, dass es so schnell gehen würde«, so der Inhaber des Restaurants Meat me kosher. Seit 43 Jahren lebt der heute 71-Jährige in der Stadt, seine Familie stammt aus dem Irak, geboren wurde er in Israel. Das Restaurant liegt in Buitenveldert, weit abseits des Zentrums. Es ist das einzige niederländische Stadtviertel, in dem es so etwas wie eine sichtbare jüdische Infrastruktur gibt.
An der Tür des Restaurants hängen Porträts von Hamas-Geiseln und der Aufruf, sie freizulassen. Früher wohnte der Unternehmer mitten in der Stadt, am berühmten Waterlooplein, ganz in der Nähe des Rathauses. Im Lauf der Zeit zog er immer weiter an den südlichen Rand. Die Räume für Juden in der Stadt seien immer weniger geworden, die einst guten Beziehungen zwischen jüdischen und muslimischen Einwohnern hätten sich zunehmend verschlechtert. Inzwischen fragt sich Shemesh, ob der Zeitpunkt gekommen sei, ganz wegzugehen. Drei seiner Kinder wohnen in Israel. »Ich denke, dass ich irgendwann sowieso gehen muss.«
Nachdenklich ist in diesen trüben Spätherbsttagen auch Femmetje de Wind. Die Schriftstellerin ist Sprecherin von Maccabi Nederland. In der Liberalen Gemeinde Amsterdams, erzählt sie Mitte November, habe der Rabbiner vor nicht allzu langer Zeit noch zu Ruhe und Besonnenheit geraten, da in der Stadt ja eigentlich noch nicht viel geschehen sei. Sie selbst wuchs als Tochter eines Holocaustüberlebenden auf, der seine Kinder warnte, der Antisemitismus sei nur versteckt, aber immer noch präsent. »Ich dachte dann: Das ist sein Trauma, das war früher.«
Für die Situation von Juden und möglichen Antisemitismus habe es viel Aufmerksamkeit gegeben.
Als Kind in Amsterdam habe sie sich immer sicher gefühlt, so die 50-Jährige. Für die Situation von Juden und möglichen Antisemitismus habe es viel Aufmerksamkeit gegeben. Heute nennt De Wind die Ereignisse vom 7. und 8. Oktober »eine Wasserscheide für Amsterdamer Juden«. Wie sich das auf sie auswirkt? »Ich merke, dass ich mir viel bewusster bin, wie ich nach außen hin auftrete. Natürlich habe ich mich immer deutlich ausgesprochen, auch in den Medien. Das kann man überall finden. Ich kann nicht mehr behaupten, ich sei nicht jüdisch.«
In den Wochen nach den Angriffen auf die israelischen Fans schlugen die Wellen hoch in der niederländischen Politik. Die Tatsache, dass viele der Angreifer offenbar junge marokkanischstämmige Männer waren, verursachte eine hitzige wie schablonenhafte Debatte: Rechte Parteien verstiegen sich zu pauschalen Schlussfolgerungen über gescheiterte Integration und forderten harte Maßnahmen, linke taten sich schwer, muslimischen Antisemitismus als solchen zu benennen. »Man fühlt sich als jüdische Amsterdamerin ein bisschen wie eine Art Spielball zwischen rechts und links«, so De Wind.
Nathan Bouscher, Sprecher des Israel-Informations- und Dokumentationszentrums (CIDI), kommentiert das politische Nachspiel der Gewaltexzesse von Amsterdam so: »Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird seitens der Regierung ein Zusammenhang mit einer gescheiterten Integration hergestellt. Dabei kommen sie mit dem Verbieten von Terrorverherrlichung und Organisationen wie Samidoun, wie auch in Deutschland.« Die Niederlande scheinen, so Bouscher, endlich Maßnahmen zu ergreifen, für die CIDI schon seit Jahren plädiere: »Um das vielköpfige Monster des Antisemitismus zu bekämpfen, muss man den Hass an der Quelle bekämpfen. Dabei scheint nun ein Anfang gemacht zu werden. Es müsste auch mehr Aufmerksamkeit geben, um dem Hass auf Social Media und großen Plattformen entgegenzugehen.«
Bei der Demonstration am Stadthaus fügt Yanki Jacobs seiner eingangs gestellten Frage eine bemerkenswerte Argumentation an. »Es geht nicht nur um Antisemitismus, sondern um eine freie und sichere Gesellschaft. Um die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?« Seine Folgerung: »Wenn es eine Zukunft für die Niederlande gibt, dann gibt es auch eine für Juden in den Niederlanden.«
Eine Stunde später beendet die Moderatorin die Veranstaltung und gibt den Anwesenden eine Warnung mit auf den Rückweg: »Am Bahnhof findet eine andere Demonstration statt. Denken Sie nach, wie viel Sie von dieser hier zeigen wollen. Vielleicht verstecken Sie Ihre Fahne lieber.«