Bernie Sanders ist eine Rarität in der amerikanischen Politik. Der 73-jährige Senator aus Vermont gehört in Washington der seltenen Spezies derer an, die genau das sagen, was sie denken. Nehmen wir etwa den 10. Dezember 2010, jenen Tag, an dem Sanders sich ins Bewusstsein der breiten amerikanischen Öffentlichkeit geredet hat. Achteinhalb Stunden lang stand er am Rednerpult des Parlaments auf dem Capitol Hill und wetterte gegen die »skandalöse wirtschaftliche und soziale Ungleichheit im Land«.
Sein Ziel an jenem Tag, nämlich die Erneuerung der Steuererleichterungen für Wohlhabende aus der Ära von George Bush zu verhindern, erreichte Sanders damals zwar nicht. Doch er hatte eines deutlich gemacht: dass es in Washington noch linksliberale Politiker gibt, die nicht bereit sind, sich mit den Zugeständnissen des Weißen Hauses an die republikanische Rechte abzufinden.
Dieser Auftritt war allerdings nicht das erste Mal, dass der Senator aus dem winzigen Neu-England-Staat den Mächtigen in Washington die Meinung gesagt hat. Mehr als einmal hat Sanders als Mitglied des Finanzausschusses die Bundesbank-Chefs Greenspan und Bernanke angeherrscht, sie würden ausschließlich die Interessen der Reichen vertreten und sich einen Dreck um das Schicksal der einfachen Amerikaner scheren. Eine Unverfrorenheit, die in der US-Politik als eine Form der Majestätsbeleidigung gilt.
unverblümt Ebendiese Unverblümtheit macht Sanders jedoch zur Hoffnung all derer, die so große Stücke auf Obama gehalten haben und heute so enttäuscht sind. So gab es einen kollektiven Jubel in der amerikanischen Linken, als Sanders im Mai bekannt gab, dass er als demokratischer Präsidentschaftskandidat für 2016 ins Rennen gehen wird.
Im Gegensatz zu Hillary Clinton, die unter dem Verdacht des Opportunismus steht und als Meisterin der Washingtoner Machtspiele gilt, traut man Bernie Sanders bei der Linken. Der Mann aus dem Norden hat es in seiner langen politischen Laufbahn geschafft, stets seinen Prinzipien treu zu bleiben.
Nicht zuletzt deshalb ist die Karriere von Bernie Sanders ein Wunder. Allein die Tatsache, dass er sich bis heute unverblümt einen Sozialisten nennt und dennoch seit 16 Jahren in den heiligen Hallen der nationalen Gesetzgebung sitzt, kann eigentlich den Regeln der amerikanischen Politik gemäß nicht sein.
Doch das Phänomen Sanders gehorcht nicht den gängigen Regeln des Geschäfts, im Gegenteil, er straft sie Lügen. Das war schon von Anfang an so.
Alt-Hippie Als Sanders sich 1981 zum Kandidaten für das Bürgermeisteramt der Stadt Burlington in seinem Heimatstaat aufstellen ließ, rechnete niemand damit, dass er eine Chance hätte. Sanders war ein radikaler Alt-Hippie, der direkt aus der Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre stammte. All seine Versuche, mit der Anti-Vietnam-Kriegs-Partei Liberty Union in den Senat von Vermont einzuziehen, waren kläglich misslungen. Doch 1981 spielte ihm das politische Klima der Zeit in Vermont in die Hand. Der libertäre Staat, der sich schon immer im Widerspruch mit dem Rest des Landes gefallen hatte, war mit dem Rechtsruck der USA nach der Wahl von Ronald Reagan zutiefst unzufrieden. Und so wagte man es in Burlington mit dem Revoluzzer und seinen für amerikanische Verhältnisse radikalen Ideen.
Doch als Sanders gewählt wurde, überraschte er die Menschen von Vermont. Er war nicht nur ein Romantiker, der von Sozialstaatlichkeit nach skandinavischem Vorbild in Amerika träumte. Er war auch jemand, der die Dinge anpacken konnte. Er reiste nicht nur nach Kuba, er revitalisierte auch die Innenstadt von Burlington. Er schloss Partnerschaften mit der örtlichen Wirtschaft, schuf Arbeitsplätze, handelte bezahlbares Kabelfernsehen für alle aus und sanierte den Haushalt der Stadt.
Diese Zeit als Bürgermeister machte ihn in ganz Vermont sehr populär. Die »Volksrepublik Burlington« wurde zum Vorbild im ganzen Staat. Seine Anhänger nannten sich die »Sanderistas«, und zum Wahlkampf für den US-Senat trat er bereits nur unter seinem Kosenamen »Bernie« an.
Daueranomalie So wurde der selbst unter Konservativen in Washington wohlgelittene Sanders zur Daueranomalie in der US-Politik. Sanders ist der letzte Überlebende einer aussterbenden Spezies – des linken New Yorker Juden, einer Spezies, die angesichts der wachsenden Aufmerksamkeit für die soziale Ungerechtigkeit im Land derzeit jedoch in seiner Person eine Renaissance erfährt.
Sanders wuchs als Sohn eines polnisch-jüdischen Farbenverkäufers im Brooklyn der 40er- und 50er-Jahre auf. Im jüdischen Arbeitermilieu von New York waren kommunistische Neigungen damals praktisch universell: Aufgeklärtes Judentum und linke Politik gehörten in New York untrennbar zusammen. Dieses Milieu hat Sanders tief geprägt. Er bezeichnet sich als areligiös – kulturell, sagt er, sei er jedoch eindeutig jüdisch geprägt. Für ihn heißt das vor allem: eine tiefe Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit und ein kompromissloses Eintreten für seine Überzeugungen.
Präsident wird Bernie Sanders mit all dem gewiss nicht werden, dazu ist er dann letztlich doch zu sehr Außenseiter. Aber eines ist sicher: Sanders wird Hillary Clinton in der Vorwahl seine Themen aufzwingen und die nationale Debatte noch mehr auf die Macht der Banken und die »Herrschaft« der Milliardäre lenken. Dass er das kann, hat er hinreichend bewiesen.