Italien

Solidarität aus Tradition

Klein, aber Idylle pur: Mitten auf einem Hügel liegt Tarsia, eine 2000-Seelen-Gemeinde nördlich des Silagebirges in der Provinz Consenza. Der Bürgermeister des Dorfes heißt Roberto Ameruso, und er hat einen Plan: Zu Füßen von Tarsia soll erstmals in Italien ein zentraler Friedhof für auf dem Mittelmeer zu Tode gekommene Flüchtlinge entstehen.

»Die Angehörigen können dann hier ihre Verwandten betrauern«, erklärt Ameruso. Und wenn man den Bürgermeister fragt, warum ausgerechnet in Tarsia ein derartiger Friedhof entstehen soll, dann verweist er auf die Tradition der Solidarität seiner Gemeinde.

Denn in der Ebene unterhalb des Dorfes liegt das ehemalige Internierungslager Ferramonti di Tarsia. Hier, in dem einst malariaverseuchten Gelände, wurden zur Zeit der faschistischen Diktatur Mussolinis von 1940 bis 1943 bis zu 2016 italienische Juden, jüdische Flüchtlinge aus ganz Europa sowie zahlreiche Antifaschisten interniert. Dorfbewohner aus Tarsia zeigten sich mit ihnen solidarisch und unterstützten sie bis zur Befreiung des Lagers durch britische Truppen im September 1943 nach Kräften. Heute befinden sich auf dem Gelände ein Gedenkort sowie ein Museum.

Flagge Will man mit dem Auto nach Tarsia fahren, führt der schnellste Weg über die Autobahn A3 bis zur Ausfahrt »Tarsia Süd«. Aber nur die wenigsten wissen, dass die Straße und eine Brücke anschließend genau über das Gelände des ehemaligen Internierungslagers Ferramonti di Tarsia führen. Man muss von der Ausfahrt die erste Abzweigung nach links nehmen und einem kleinen Hinweisschild folgen, bis man vor dem Tor steht. Links weht die italienische, rechts die israelische Flagge. Hinter dem Zaun sind noch einige der erhaltenen Baracken zu besichtigen.

»Gezwungen an diesen Ort durch ein verächtliches Regime, bezeugten hier 2000 Personen verschiedenen Glaubens, Rasse und Nationalität durch ihre Anklage und durch die Solidarität unserer Leute die Schrecken des Faschismus«, so ist es auf einem Gedenkstein vor dem Zaun zu lesen. Das Lager von Tarsia war das größte seiner Art, das in Italien durch das faschistische Regime realisiert wurde. Seine Errichtung wurde unmittelbar nach Erlassung der italienischen Rassengesetze 1938 beschlossen, Baubeginn am sumpfigen Ufer des Crati war 1940, kurz nachdem Italien an der Seite Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg eintrat.

Flüchtlingsschiff Die ersten Gefangenen des Lagers waren 100 italienische Juden aus Norditalien. Doch nach und nach kamen Transporte mit Juden aus ganz Europa nach Tarsia. Dazu zählten zum Beispiel die 494 Überlebenden des 1940 gesunkenen Flüchtlingsschiffes Pentcho, die zunächst in einem KZ auf Rhodos interniert wurden.

Zu dieser Gruppe gehörte auch der Kaufmann Elias Finger aus Gelsenkirchen. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde der damals 35-Jährige durch Nazi-Schläger schwer verletzt, das Geschäft der Familie zerstört. Elias Finger beschloss daraufhin, Deutschland zu verlassen. Er wollte über die Donau und das Mittelmeer nach Palästina fliehen, doch kam nur bis Bratislava, wo er verhaftet und interniert wurde.

In dem slowakischen Lager warteten bereits viele Juden aus ganz Europa auf die Abfahrt des Flüchtlingsschiffes Pentcho, eines alten Raddampfers, der notdürftig seetüchtig gemacht wurde. Das Schiff mit 500 Menschen an Bord fuhr donauabwärts und gelangte nach Wochen über das Schwarze Meer und den Bosporus in die Ägäis. Hier lief es in der Nacht zum 10. Oktober vor der griechischen Insel Chamilonisi auf Grund.

Aus Seenot gerettet wurden die Flüchtlinge von dem italienischen Schiff Camogli, dessen Kapitän sie nach Rhodos brachte, das damals unter italienischer Besatzung stand. Nach über einem Jahr wurden die Juden dann nach Süditalien verschleppt.

In Tarsia mussten die Internierten in Baracken hausen. Zwei Drittel von ihnen waren Juden, die übrigen italienische Antifaschisten, aber auch Franzosen, Jugoslawen, Griechen und sogar einige Chinesen. Nach ihrer Befreiung wurden sie alle von der britischen Armee versorgt, die in Tarsia ein Lager für Displaced Persons einrichtete. Unter den Überlebenden befand sich ebenfalls Elias Finger, der sich anschließend via Spanien 1944 nach Palästina durchschlug. Erst am 6. September 1945 erfolgte die endgültige Schließung des Lagers.

Ferramonti di Tarsia lässt sich natürlich kaum mit den Konzentrationslagern im deutschen Herrschaftsbereich vergleichen. So war die Lagerleitung den jüdischen Internierten gegenüber recht wohlwollend eingestellt. Es gab eine Schule, eine Kantine, eine Bibliothek sowie drei Synagogen. Und – was nie vergessen werden darf – die lokale Bevölkerung unterstützte die Lagerinsassen, wo sie nur konnte. Trotzdem herrschte auch in Tarsia zeitweilig großer Hunger.

Herkunftsland Auf genau diese Solidarität beruft sich nun Bürgermeister Ameruso. Derzeit leben 26 erwachsene und 17 minderjährige Flüchtlinge in Tarsia. Wie überall in Süditalien hatte der Staat auch dem kleinen Ort ein Kontingent Flüchtlinge zugewiesen, die nun auf ihr Anerkennungsverfahren warten. Doch dem Bürgermeister geht es ebenfalls um die Toten.

Also jenen Menschen, die auf ihrem Weg über das Mittelmeer zu Tode gekommen sind. 12.000 sollen es nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks seit 2014 mittlerweile sein. Ihre Gräber liegen überall verstreut entlang der italienischen Küste und sind von den Angehörigen nur schwer zu finden. Genau das will Ameruso mit dem zentralen Friedhof ändern.

Immer wieder werden Leichen geborgen, deren Identität oder Herkunft nur schwer zu ermitteln ist. Am Institut für Rechtsmedizin in Mailand versucht man dann, über die DNA, persönliche Gegenstände wie Fotos oder Körpermerkmale mehr über diese Toten zu erfahren. Viele aber bleiben namenlos und werden nur mit einer Nummer versehen beerdigt.

Die Idee, die während ihrer Flucht Verstorbenen auf einem zentralen Friedhof zu bestatten, geht auf den kalabresischen Menschenrechtsaktivisten Franco Corbelli zurück. Der Berufsschullehrer kämpft seit vier Jahren für das Projekt. Aufgerüttelt hatte den 60-Jährigen die Tragödie vor Lampedusa, als am 3. Oktober 2013 fast 400 Bootsflüchtlinge aus Somalia und Eritrea im Mittelmeer ertranken.

Gedenken Corbelli konnte mitverfolgen, wie die toten Körper, lediglich mit Nummern versehen, dann auf die verschiedenen lokalen Friedhöfe verteilt wurden. Seither setzt er sich dafür ein, dass die Toten ein würdiges Begräbnis und ein Gedenken erhalten. Auch die katholische Kirche betont mittlerweile die Bedeutung einer richtigen Bestattung und schließt sich der Initiative an.

Tarsia selbst liegt zwar nicht am Meer, wo sich die menschlichen Tragödien derzeit gerade abspielen. Auch geht das Leben in dieser vornehmlich landwirtschaftlich geprägten Region, die als das Armenhaus Italiens gilt, eher einen ruhigen Gang. Es gibt eine Kirche, zwei Bars und eine Pizzeria. Der Platz vor dem Rathaus ist modern gestaltet, sogar eine Theaterbühne kann das Dorf vorweisen.

Die letzte Ruhestätte für Migranten selbst soll am Fuße des Hügels, auf dem die Häuser des Ortes stehen, errichtet werden. Dort unten befindet sich ebenfalls der Friedhof der kleinen Gemeinde. Auch verstorbene Juden aus dem Lager von Tarsia liegen dort begraben. Seite an Seite mit den Dorfbewohnern, wie der Bürgermeister betont.

Auf der anderen Seite der Straße, die zum Internierungslager Ferramonti di Tarsia führt, ist ein alter Olivenhain zu sehen, der die geplante Bestattungsstätte beherbergen soll. »Wir haben von der Provinzregierung 200.000 Euro für das Projekt erhalten und können am Jahresende mit dem Bau beginnen«, erläutert Bürgermeister Ameruso den aktuellen Stand der Dinge.

Reflexion Auch ein Architekturbüro wurde bereits mit der Planung betraut. Noch sind die beiden vorgesehenen Grundstücke in privater Hand, aber der Ankauf sei kein Problem. Neben den Gräbern soll zudem ein Friedenspark entstehen, genauer gesagt: ein Platz des »Friedens und der Reflexion«.

Einen Namen für den geplanten Friedhof gibt es bereits. Er soll Aylan Kurdi gewidmet werden, dem dreijährigen syrischen Jungen, dessen Leichnam am 2. September 2015 an der türkischen Küste bei Bodrum an Land gespült wurde. Sein Foto ging damals um die Welt und steht geradezu ikonisch für die Flüchtlingsdramatik. Und damit auch für die Notwendigkeit, den Toten eine letzte würdige Ruhestätte zu geben.

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