Wir Juden müssen repräsentabel aussehen, denn wir tragen eine wichtige Botschaft», sagt Yosel Tiefenbrunn. Der 24-Jährige arbeitet im Atelier Maurice Sadwell in der Savile Row, einer kleinen Straße im Zentrum Londons, aus der seit Jahrhunderten die feinsten maßgeschneiderten Anzüge kommen. Tiefenbrunn geht in die Lehre bei Andrew Ramroop, einem der besten Maßanzugschneider der Welt.
Als Tiefenbrunn sich bei ihm um einen Ausbildungsplatz bemühte, wusste Ramroop, dass es der junge Mann schwer haben würde. «Mit seinem Bart, der Kippa und den Ansprüchen auf besondere Gebetszeiten hätten ihm viele Meister keine Chance gegeben», meint der gefragte Schneider. «Aber bei mir steht der Mensch vor seiner Herkunft.»
diskriminiert Ramroop weiß, wovon er spricht, denn er selbst war Diskriminierung ausgesetzt. Nachdem er als Teenager Anfang der 70er-Jahre mit dem Plan, sich in Savile Row zum Schneider ausbilden zu lassen, sein Dorf in Trinidad verlassen hatte, musste er wegen seiner Hautfarbe jahrelang gegen Vorurteile kämpfen. In seinem ersten Ausbildungsbetrieb sollte Ramroop in einer Hinterkammer Hilfsarbeiten ausführen – obwohl er die Londoner Modeschule als bester Absolvent verlassen hatte.
Der Schneider Maurice Sadwell, der bei der Marine Menschen aus aller Welt begegnet war, behandelte den jungen Mann aus der Karibik besser. Als Ramroop während der Abwesenheit seines Meisters ein Kleidungsstück ausbessern musste, war der Kunde derart zufrieden, dass er danach nur noch von Ramroop bedient werden wollte. Der Kunde war Christopher Lennox-Boid, Privatsekretär von Regierungschefin Margaret Thatcher.
Als sich Sedwell rund 15 Jahre später zur Ruhe setzte, erhielt Ramroop 90 Prozent des Geschäfts. Hohe Auszeichnungen, ein Professorentitel und ein Verdienstorden der Königin folgten.
Heute arbeitet Yosel Tiefenbrunn bei ihm. Allein das ist eine Auszeichnung für den jungen Mann aus Londons chassidischem Viertel Stamford Hill. Denn Ramroop holt sich nur zwei Lehrlinge pro Jahr ins Studio.
Tiefenbrunn ist kein gewöhnlicher Lehrling. In den vergangenen Jahren hat er als Chabad-Rabbiner gearbeitet: Ausbildung in London, danach Schlichot (Missionsdienste) in Schanghai. Zum Schneiderhandwerk habe ihn «die Liebe zum Design gezogen», sagt er, «und zu Ramroop die göttliche Vorsehung».
tradition Tiefenbrunn will beweisen, dass das Schneiderhandwerk auch zu einem frommen Juden passt. «Wir haben eine Tradition der Schneiderei. Viele der Mäntel, die Charedim tragen, sind handgefertigt, nicht zu sprechen von Frauen- und Kinderkleidung», sagt der Rabbiner.
Er selbst ist gut gekleidet: hellgraue Stoffhose, braune Schuhe, ein dunkles graugestreiftes Sakko, aus dessen oberer Tasche ein orangefarbenes Einstecktuch lugt, um den Kragen des weißen Hemds eine schwarze Fliege. Die ovale Brille, der rote Vollbart und das lila Käppchen lassen erahnen, dass Yosel Tiefenbrunn mehr als nur ein Schneiderlehrling ist.
Doch er ist sich sicher, dass er richtig liegt. «Auch orthodoxe Männer können sich individuell kleiden», findet er. «Man kann zum Beispiel eine ganz schicke Jacke anfertigen, die von außen schwarz ist, aber innen könnte man mit Farbe arbeiten, eine kleine Nuance der Individualität.» Dass Farbe nicht im Widerspruch zur Tradition steht, beweist seiner Meinung nach Josefs Mantel im Tanach. Weil er selbst Josef heißt, wolle er eines Tages mal so einen Mantel schneidern, sagt er.
Karneval Was Tiefenbrunn an Farbe und Eleganz in die orthodoxe Welt bringen will, hat sein Meister bereits in Savile Row eingeführt. «Farbe ist eine Hommage an meine Kindheit voller Natur, die Farben der tropischen Pflanzen und Tiere sowie an den karibischen Karneval.» Doch Ramroop betont: «Wer etwas Neues einführen will, muss zuerst das Handwerk tadellos beherrschen.»
Allzu weit vorwagen will sich Tiefenbrunn allerdings nicht, denn von seinem Meister hat er gelernt: «Im Mittelpunkt steht der Mann, der den Anzug möchte. Der Kunde ist am Anfang und am Ende selbst der Designer.» Deshalb gibt es für Tiefenbrunn auch klare Grenzen: Er hält nichts von dem Trend unter liberalen und Reformjuden, alle möglichen Arten von Tallitot zu kreieren, denn hier gehe es um ein heiliges Objekt. «Man könnte allenfalls versuchen, ein qualitativ gutes, leichtes Material zu benutzen.» Ganz wichtig bei derlei Überlegungen ist jedoch das Schatnes-Verbot: Die Tora (5. Buch Mose 22,11) verbietet es, Leinen und Wolle zu mischen.
Tiefenbrunn betont, dass noch vor wenigen Jahrzehnten das Textilhandwerk ein sehr jüdischer Beruf war. Seit er seine Schneiderlehre mache, würden immer wieder Leute aus seinem Bekanntenkreis davon erzählen, dass ihre Verwandten früher in der Textilbranche gearbeitet haben. «Doch für die meisten ist es Vergangenheit. Statt ihr Können weiterzugeben, wollen jüdische Eltern, dass ihre Kinder Anwälte oder Ärzte werden.»
kunst Auch Ramroop ist es nicht gelungen, seine eigenen Kinder von der Schneiderkunst zu überzeugen. Aber mit Lehrlingen wie Tiefenbrunn bleibt ihm Hoffnung. Das Weitergeben der Schneiderkunst ist deshalb heute zu einer seiner wichtigsten Aufgaben geworden. Vor einigen Jahren stieß er mit Plänen für eine Savile-Row-Schneiderakademie bei den Kollegen in der Umgebung noch auf Skepsis. Ramroop gründete sie trotzdem. Ehemalige Lehrlinge arbeiten heute bei den Nachbarn und tragen die Kunst in die Zukunft.
Die Namen vieler Kunden wie Samuel L. Jackson und Lady Diana Spencer beweisen, dass sich Vorurteile nicht lohnen. Nachteile können sogar zum Vorteil werden. Ramroop sieht deshalb eine helle Zukunft für seinen jüdischen Lehrling Yosel. Wie sich die Männer von Chabad in einigen Jahren kleiden, werde von seinem Erfolg abhängen, meint Tiefenbrunn. «Auch Orthodoxe gehen mit der Zeit. Und wer respektabel aussieht, wird auch von anderen respektiert – und damit letztendlich auch seine Religion.»
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