Im Auf und Ab der Treppen, dem Gewirr der schmalen Gassen, den selbst tagsüber dunklen Ecken, der Vielfalt kleiner Geschäfte und winziger Ladenluken wirkt die Stadt zeitlos. Lissabon, dieser liebenswürdig unaufgeregte Ort am europäischen Westend, ist immer eine gute Wahl, wenn man schon im März sommerliche Temperaturen haben möchte. Die den Portugiesen gern unterstellte Melancholie als Wesensmerkmal scheint in der Altstadt eine Entsprechung aus bröckelndem Stein und bedächtiger Geschäftigkeit zu finden.
Labyrinth Als Fremder verliert man sich rasch in dem unübersichtlichen mittelalterlich maurischen Labyrinth. Man steht, zögert – und kehrt um. An einem Sonntagabend, wenn die Touristen ausbleiben, weil die meisten Restaurants und Fado-Lokale geschlossen sind, ist selbst die Alfama, das Viertel am Hang unterhalb des Castelo Sao Jorge, einer jener einsamen Orte inmitten einer Großstadt.
Räudige Katzen miauen, und jeder einzelne Ledersohlentritt auf dem Kopfsteinpflaster wird derart einschüchternd verstärkt von den hohen Häuserwänden zurückgeworfen, dass einen der Takt der eigenen Schritte zur Eile antreibt. Dabei gibt es keinen Grund zu übertriebener Vorsicht – Lissabon gilt laut einer wissenschaftlichen Untersuchung von 2007 als sicherste Metropole Europas.
Hier siedelten Juden, noch bevor Portugal als Staat überhaupt existierte. Doch wer die Stadt in Erwartung eines munteren jüdischen Lebens bereist, sucht vergeblich nach einem Viertel mit Geschäften und Lokalen. Der Tourismusverband und die Kommunen sind zwar daran interessiert, die alten jüdischen Quartiere zu erhalten und zu vermarkten, aber es sind Orte ohne jüdisches Leben. Das ist heute nirgendwo in Portugal mehr im Straßenbild zu finden, es ist Privatsache. Außer in der Hauptstadt gibt es jüdische Gemeinden in Belmonte, Porto und an der Algarve.
Sämtliche Reiseführer verweisen beim Stichwort »jüdisch« weit in die Vergangenheit: in die Zeit vor dem zwölften Jahrhundert, zu Zeiten der Araber, als Muslime, Juden und Christen gerade in der Alfama friedlich nebeneinanderher lebten. Dann eroberten die Christen Lissabon und zwängten Mauren und Juden in Ghettos. An die einstigen vier Judiarias erinnert heute noch die eine oder andere Rua da Judiaria. Auf Anfrage führt eine Stadtführerin, die sich auf untergegangene jüdische Geschichte spezialisiert hat, durch die diversen Judengassen.
Am zentralen Largo de Domingos stößt man auf einen Gedenkstein mit dem Relief eines Davidsterns. Die Erinnerung weist auch hier weit zurück, auf das Jahr 1506, als infolge von Christianisierung und Vertreibung rund 5.000 Juden massakriert wurden.
Restaurant Wer eine Reise nach Lissabon plant, kann sich vorab im Internet umtun und ein arrangiertes koscheres Schabbatessen in privatem Rahmen bestellen, denn ein koscheres Restaurant findet sich in der ganzen Stadt nicht. Theoretisch kann man natürlich auch die jüdische Gemeinde anrufen. Besser aber, man setzt sich kurz vor Schabbat-Beginn vor das Café »S« in der Rua Alexandre Herculano direkt neben der Shaare-Tikva-Synagoge.
Hier treffen sich vor dem Gebet die Männer. Man kann zusehen, wie vor Sonnenuntergang ein einsamer Uniformierter aufzieht, sich vor der Synagoge postiert und mit den nach und nach eintrudelnden Betern plaudert. Wenn man irgendwo in Lissabon mit einheimischen Juden ins Gespräch kommen kann, dann hier.
Rund 800 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde der Stadt, die meisten sind Sefarden. Eine aschkenasische Gemeinde gab es bis in die 1920er-Jahre. Und obwohl deren Ohel-Yaacov-Synagoge bis vor etwa zehn Jahren fortbestand und bedeutende Lissabonner Rabbiner wie Samuel Mucznik und Mendel Diesendruk Nachkommen aschkenasischer Einwanderer aus Polen waren, ging die kleine Gruppe osteuropäischer Juden in der sefardischen Gemeinschaft auf.
Die Gemeinde hat eine solide Grundversorgung aufgebaut: Sie verfügt über eine Schächterei und ein kontrolliertes koscheres Catering. Neben dem Sportverein Maccabi, der Senioren-Gruppe »Gil Hazahav« und dem Jugendtreff »Dor Hadash« gibt es einen Treffpunkt für Religion und Erziehung. Rabbiner Eliezer Shai di Martino, ein gebürtiger Römer, ist modern orthodox und wird beim Tora- und Halacha-Unterricht für Erwachsene und Kinder von seiner Frau unterstützt.
Die Gemeinde verfügt über eine Mikwe, nicht aber über eine jüdische Schule. Bücher werden aus Brasilien bezogen. Und im Kaufhaus El Corte Inglés am Rand des größten innerstädtischen Parks von Lissabon gibt es eine Ecke mit koscheren Lebensmitteln aus dem Ausland sowie Wein aus Israel.
Akzeptanz Antisemitismus scheint es in Portugal kaum zu geben. »Wir sind akzeptiert«, sagt Esther Muczinik, die Gemeindevorsitzende. Man kenne hier so gut wie keine Gewalt gegen Juden. Zuletzt haben 2007 antisemitische Täter jüdische Grabsteine beschmiert. Ein Lissaboner Gericht verurteilte die Täter eindrucksvoll hart zu vier Jahren Gefängnis.
»Wir sind gut in in die Gesellschaft integriert«, hebt Muczinik hervor. Doch es brauche »den vollen Einsatz der Gemeinde, um das jüdische Leben in dieser Form aufrechtzuerhalten«. Der Altersdurchschnitt praktizierender Juden in der Stadt ist hoch, doch die beträchtliche Zahl an Kindern stimmt viele zuversichtlich.
Und obwohl auch in Portugal die Assimilation zunimmt und immer weniger Juden auf koschere Ernährung Wert legen, bleibt die Zahl der Gemeindemitglieder durch Zuzug aus dem Ausland, besonders aus Brasilien, stabil. »Wir führen in religiöser, sozialer und kultureller Hinsicht ein bescheidenes jüdisches Leben«, konstatiert Esther Muczinik, »aber wir halten uns gut.«