»Wer nur ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt«, heißt es bekanntermaßen schon im Talmud. Während des Zweiten Weltkriegs gab es viele Nichtjuden, die ihre Menschlichkeit bewahrten und Tausende von Juden vor der Vernichtung retteten.
Zahlreiche werden seit 1948 mit dem Ehrentitel »Gerechter unter den Völkern« in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ausgezeichnet. Doch Juden wurden gleichfalls auf diese Weise zu Helden. Einer von ihnen war Rabbiner Eliezer Zusia Portugal. Er adoptierte Tausende jüdischer Waisen.
Karriere Portugal selbst wurde 1898 in der bessarabischen Stadt Sculeni im heutigen Moldawien geboren. Er hatte sefardische Vorfahren, die sich nach dem Alhambra-Edikt von 1492, das die Vertreibung von Juden aus Spanien einläutete, in die Jiddisch sprechenden Gebiete in der Nähe zum Schwarzen Meer ansiedelten. Bereits im Alter von 17 Jahren wurde er Rabbiner und sprach zu Beginn seiner Karriere in seiner Gemeinde viel über den spirituellen Charakter von Tora und Kabbala.
Mit unfassbarer Gelassenheit redete Portugal auf die Nazis ein.
Als Rabbiner und Gelehrter galt sein Interesse aber vor allem der jüdischen Jugend. Durch Diskussionen versuchte Portugal immer wieder, einer um sich greifenden Assimilation intellektuell entgegenzuwirken. Auf Empfehlung von Mordechai Friedman, des Rebben aus Sadhora, wurde Portugal schließlich 1935 Oberrabbiner von Czernowitz in der Bukowina. Damals gehörte die Region zu Rumänien, heute zur Ukraine.
Repressalien Zu Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion wurde Czernowitz im Juni 1941 von deutschen und rumänischen Streitkräften besetzt, woraufhin die Juden der Stadt zahlreichen Repressalien ausgesetzt waren. Doch ungeachtet aller Gefahren rettete Bürgermeister Traian Popovici durch seine Weigerung, die Juden der Stadt nach Transnistrien zu deportieren, rund 20.000 von ihnen das Leben. Sein Argument: Ohne Juden würde die Wirtschaftskraft der Stadt leiden.
Bewahrung Trotzdem gab es in Czernowitz viele Waisen, weil ihre Eltern in Konzentrationslager oder nach Transnistrien verschleppt wurden. Popovici bat deshalb Portugal um Hilfe, woraufhin dieser sofort reagierte. So nahm der Rabbiner 40 Waisen unter seine Obhut und brachte sie bei anderen Rabbinern in Czernowitz und Umgebung unter, bis im April 1944 die Rote Armee die Stadt befreite.
Portugal folgte damit dem religiösen Grundsatz von Pikuach Nefesch, was auf Deutsch so viel wie »ein Leben retten« bedeutet. Es beschreibt das Prinzip des jüdischen Gesetzes, dass die Bewahrung des menschlichen Lebens praktisch alle anderen religiösen Überlegungen außer Kraft setzen kann.
Was Rabbiner Portugal damals alles genau unternahm, um die Kinder vor dem sicheren Tod zu bewahren, ist bis heute nicht geklärt. Gerüchten zufolge soll er die Deutschen und ihre Helfer bestochen haben, sodass selbst Mädchen oder Jungen, die bereits für einen Transport vorgesehen waren, gerettet wurden. Zeitzeugen berichten, dass er mit einer unfassbaren Gelassenheit auf die Nazis einzureden vermochte – und sie so überzeugen konnte. Finanziell wurde er dabei von gleich mehreren jüdischen Organisationen unterstützt.
Nach 1945 begann Portugal, seine Waisen zu adoptieren, und schmuggelte sie – als seine »Familie« getarnt – nach Bukarest.
Haft Aufgrund seiner vielfältigen Aktivitäten wurde Portugal sowohl von den Deutschen als auch danach von den Sowjets verfolgt, inhaftiert und sogar gefoltert. Obwohl sein Leben in Gefahr war, ließ er sich nicht abbringen. Nach 1945 begann der Rabbiner, seine Waisen zu adoptieren, und schmuggelte sie – als seine »Familie« getarnt – in die mittlerweile befreite rumänische Hauptstadt Bukarest.
Dort nahm er weitere jüdische Kinder auf und gründete sogar mehrere Kinderheime, wo man sich um seine Schützlinge kümmern sollte. Auf diese Weise hatte er bis Kriegsende Tausenden von ihnen das Leben gerettet.
Von »seinen« Kindern verlangte der Rebbe nur eine einzige Wertschätzung, nämlich dass alle ihn »Tate«, das jiddische Wort für »Vater«, nennen und ihre intensiven Torastudien auch weiterhin betreiben sollten. »Der Rebbe war wie eine geradezu mystische Person«, erinnert sich sein Adoptivsohn Herschel Portugal. »Ich war drei Jahre alt, als er mich aufnahm. Seine Energie war einfach unglaublich. Am meisten hat mich beeindruckt, wie er uns lehrte, sich nicht als Jude zu schämen, sondern stolz auf seine Herkunft zu sein.«
Bruder Herschel Portugal kam 1938 als Zvi Leder im bukowinischen Wyschnyzja zur Welt. Mit seiner gesamten Familie wurde er 1941 in das nahe gelegene Ghetto der Stadt, Scharhorod, verschleppt. Als die Deutschen seine Eltern dort umbrachten, wurde er von seinem Bruder Josef getrennt. Mit anderen Kleinkindern kam Zvi in ein nichtjüdisches Heim. »Mehrmals holten wir unseren Bruder zu uns«, so Josef Leder, als er der Shoah Foundation des amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg seine Lebensgeschichte erzählte. »Doch jedes Mal wurden wir erwischt.« Als Portugal davon erfuhr, organisierte er sofort seine heimliche Entführung.
Nach dem Krieg setzte Portugal seine Aktivitäten fort und verhalf seinen Schützlingen zur Flucht. Die neuen kommunistischen Machthaber in Bukarest sahen in dem Rabbiner deshalb einen Gegner. 1959 wurden ihm Menschenhandel sowie Spionage für Israel und die Vereinigten Staaten vorgeworfen.
Zusammen mit seinem einzigen biologischen Sohn Yisroel Avrohom Portugal kam er deshalb ins Gefängnis. Seine Inhaftierung brachte eine internationale Kampagne ins Rollen. Sowohl UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld als auch das US-Außenministerium intervenierten, weshalb sein Sohn und er nach fünf Monaten wieder freigelassen wurden und Rumänien verlassen konnten.
new york Obwohl ein Großteil seiner »Kinder« nach Israel gegangen war, machte Portugal New York zu seiner neuen Heimat. Von dort aus könne er den in Rumänien verbliebenen Juden besser helfen, lautete das Argument für seine Wahl. Rund 300 der von ihm geretteten Waisen, darunter Herschel, waren wie er in die Vereinigten Staaten gegangen. Sie ließen sich fast alle in Brooklyn nieder, wo der Rebbe die Skulener Dynastie gründete, die noch heute von seinem mittlerweile 95-jährigen Sohn angeführt wird.
Bis zu seinem Tode sollte Portugal seine Bemühungen für Juden, die irgendwo auf der Welt in Gefahr gerieten, fortsetzen
1961 besuchte Portugal in Begleitung vieler seiner geretteten »Kinder« Israel. Nach fast 20 Jahren sahen sich auch die Gebrüder Leder erstmals wieder. »Es war sehr emotional«, berichtet Josef Leder, der 1945 nach einer langen Odyssee Palästina erreicht hatte. »Natürlich sind wir dem Rebben dafür sehr dankbar, dass er Herschel retten konnte. Doch es bleibt ein wenig der Schmerz, dass wir damals nichts unternehmen konnten, ihn daran zu hindern, ein Chassid zu werden und den Namen Portugal anzunehmen.«
Bis zu seinem Tode sollte Portugal seine Bemühungen für Juden, die irgendwo auf der Welt in Gefahr gerieten, fortsetzen. Am 18. August 1982 verstarb er in New York. Als Portugal wenige Jahre zuvor in einem Interview gefragt wurde, ob er auch mit Hitler verhandelt hätte, antwortete er: »Um nur ein einzig jüdisches Leben zu retten, hätte ich es gemacht.«