Was Rabbi Mark Zimmerman in den Tagen nach dem 7. Oktober fühlte – neben vielen anderen Emotionen –, war nicht so sehr Erstaunen und Schock darüber, dass es ein Massaker gegeben habe, sagt er. Schließlich sei der Antisemitismus seit Jahren im Aufwind, weltweit und auch in den USA. Da war der Amoklauf in der »Tree of Life«-Synagoge 2018 in Pittsburgh mit elf Toten. Ein Jahr später gab es einen Angriff auf ein Chabad-Haus in der Nähe von San Diego, bei dem eine Frau erschossen wurde.
Vielmehr war Mark Zimmerman, Chefrabbiner der konservativen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in Dunwoody, einer Kleinstadt nahe Atlanta im US-Bundesstaat Georgia, »verblüfft und befremdet«, dass die Gewaltorgie der Hamas in Teilen der amerikanischen Bevölkerung nicht etwa Entsetzen und Mitgefühl, sondern einen rasanten Anstieg antisemitischer Vorfälle zur Folge gehabt habe. Einen Anstieg von 400 Prozent, laut Erhebungen der Anti-Defamation League (ADL).
Seit dem 7. Oktober steht Sicherheit im Fokus für die jüdische Gemeinschaft in den USA
Sicherheit ist seit Jahren ein wichtiges Anliegen, seit dem 7. Oktober steht es im Fokus für die jüdische Gemeinschaft in den USA. Juden machen 2,4 Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus – »aber sie sind die größte Zielgruppe für Hasskriminalität im Land«, sagt Brian Davis, Leiter des Atlanta-Büros der Non-Profit-Organisation »Secure Community Network« (SCN). Rund 60 Prozent aller Fälle von religiös motivierter Gewalt richteten sich gegen Juden, berichtet die US-Bundespolizei FBI.
Das Secure Community Network hat sich zur Aufgabe gemacht, jüdische Einrichtungen – Synagogen, Schulen, Gemeindezentren oder Kultureinrichtungen – bei der Umsetzung ihrer Sicherheitsvorkehrungen zu unterstützen. Davis, ehemaliger Mitarbeiter des FBI, betreut rund 80 Einrichtungen im Großraum Atlanta.
Mit seinem kleinen Team führt er Sicherheitsbewertungen durch, identifiziert verwundbare Bereiche, macht Verbesserungsvorschläge. »Wir haben am 7. Oktober nicht bei Punkt null angefangen«, betont Davis. Bei vielen Einrichtungen seien Sicherheitsvorkehrungen bereits in Kraft gewesen. Nun gehe es vor allem darum, die bestehenden Maßnahmen zu überprüfen, zu verstärken und zu ergänzen. Eine Option sei dabei allerdings ausgeschlossen: »Wir würden jüdischen Organisationen niemals dazu raten, ihre Identität zu verbergen«, sagt Davis.
In den USA müssen religiöse Einrichtungen für ihre Sicherheit selbst aufkommen.
Zu den Maßnahmen zählen Sicherheitszäune, Alarmanlagen mit Videoüberwachung, Zugangskontrollen, automatische Kfz-Kennzeichenerfassung und Panik-Knöpfe. Und immer häufiger die Gebäudesicherung durch bewaffnetes Wachpersonal. Aber auch scheinbar banale Dinge wie die Bepflanzung der Eingänge und Fensterfronten mit sogenannter feindlicher Vegetation: Dornenbüsche und Dornensträucher, die Angreifern den Zugang erschweren.
Mehrere Gemeindezentren und Synagogen bieten für ihre Mitglieder seit einigen Jahren Krav-Maga-Kurse an, eine israelische Kampfsportart zur Selbstverteidigung. Das SCN führt Sicherheitstrainings für Mitarbeiter und Mitglieder von jüdischen Einrichtungen durch. Ferner sammelt und analysiert die Organisation sicherheitsrelevante Informationen, scannt die sozialen Medien und steht in ständigem Austausch mit lokalen, nationalen und bundesstaatlichen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten.
Staatliche Fördergelder für Sicherheitsmaßnahmen
Schließlich unterstützt das Secure Community Network jüdische Institutionen bei der Beantragung von staatlichen Fördergeldern für Sicherheitsmaßnahmen. Anders als in den meisten europäischen Ländern müssen in den USA religiöse Einrichtungen wie Synagogen, Kirchen, Tempel und Moscheen für ihre Sicherheit selbst aufkommen.
»Die Finanzierung unserer Sicherheit ist derzeit die größte Herausforderung«, sagt Rabbi Zimmerman, ein gelassener Mann mit feinem Lächeln und prüfendem Blick.
Für den Schutz seiner Gemeinde arbeite er mit der Polizei ebenso zusammen wie mit privaten Sicherheitsdiensten. Doch selbst Polizisten, die außerhalb ihrer Schichtdienste, aber in Uniform, mit voller Ausrüstung und mit ihren Streifenwagen, vor Synagogen Wachdienste übernehmen, werden von den Gemeinden über die Polizeibehörden angeheuert – und bezahlt.
»Solange der Krieg andauert und sich unsere Mitglieder verwundbar fühlen, werden wir in bewaffnete Sicherheitskräfte investieren«, sagt Rabbi Zimmerman. »Aber langfristig können wir uns das nicht leisten.«
Ein gutes Verhältnis zu den örtlichen Polizeibehörden sei in jedem Fall hilfreich, betont der Rabbiner. In Kommunen mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil – so wie Dunwoody bei Atlanta – hat die örtliche Polizei seit dem 7. Oktober ihre Patrouillen rund um jüdische Einrichtungen verstärkt. Auch führen Polizeibehörden, häufig zusammen mit dem SCN, Sicherheits-, Notfall- und sogenannte Active-Shooter-Kurse durch. Letztere lehren, wie man sich bei einem Schusswaffenangriff schützen kann.
»Ihr seid keine Opfer. Niemand ist wehrlos. Das Schlimmste ist, nichts zu tun.«
So wie an diesem Tag im Gebäude von Jewish Family & Career Services (JF&CS), einer gemeinnützigen Einrichtung in Atlanta, die soziale Dienste für bedürftige jüdische und nichtjüdische Bürger anbietet. Zwei Stunden lang erklärt Major Oliver Fladrich von der Polizeibehörde in Dunwoody einer Gruppe von rund 25 Mitarbeitern das Verhalten im Falle eines Amoklaufs – wie sie sich schützen und Leben retten können. Seine Botschaft: »Ihr seid keine Opfer. Niemand ist wehrlos. Das Schlimmste ist, nichts zu tun.«
Militärischer Bürstenhaarschnitt, rastlose Augen und energische Bewegungen – Fladrich demonstriert, wie sich Zivilisten bei einem Amoklauf verbarrikadieren können und, wenn nötig, gegen den Angreifer zur Wehr setzen, selbst einen mit Sturmgewehr. Wie sie Türen mit Gürteln verriegeln, wie sie Papierkörbe, Stühle, Bücher, Laptops oder Kugelschreiber als Waffen gebrauchen können. Aber er zeigt auch, wie sie T-Shirts als Druckverbände oder Plastiktüten als Tourniquets, Schlaufen zum Abbinden von Blutungen, nutzen können.
Fladrich, der als Teenager aus Deutschland in die USA einwanderte und seit mehr als 30 Jahren als Polizist in den USA arbeitet, appelliert an »den Einfallsreichtum, den Improvisationsgeist und die pure Kraft der Zahlen«, die eine Gruppe mitbringe. Die Teilnehmer schauen fasziniert, erstaunt, erschrocken und skeptisch – aber niemand schaut weg.
Die Botschaft der Active-Shooter-Kurse sei eine Botschaft von Stärke, Selbstvertrauen und Unabhängigkeit, so Fladrich, der in der Vergangenheit im Rahmen von Polizei-Austauschprogrammen häufig nach Israel gereist ist. Es sei eine Botschaft, die in der jüdischen Gemeinschaft weltweit Widerhall findet, sagt Rabbi Zimmerman. »Viele unserer Gemeindemitglieder sind seit dem 7. Oktober tief verunsichert, traumatisiert.« Aber er betont: Dies sei nicht wie in den 30er-Jahren in Deutschland. »Wir haben gelernt: Wir können uns nur bedingt auf die Welt um uns herum verlassen«, sagt der Rabbiner. »Wir müssen unsere Sicherheit selbst in die Hand nehmen.«
Diese Erkenntnis teilt auch Ariel Siegelman, der Gründer von The Draco Group, einem privaten Sicherheitsdienst in Atlanta. »Wenn man zulässt, dass die eigene Sicherheit vom guten Willen anderer abhängt, macht man sich zur Zielscheibe.«
Das Geschäft läuft gut seit dem 7. Oktober
Sein Geschäft läuft gut seit dem 7. Oktober. »Wir können uns vor Anfragen kaum retten.« Siegelman, 45, kompakt und mit wendigen Bewegungen, ist amerikanischer und israelischer Staatsbürger. Er hat seinen Militärdienst bei einer Kampfeinheit der israelischen Armee geleistet, hat seinen Abschluss in Kultur-Anthropologie an der University of Georgia gemacht und danach mehrere Jahre in Israel und Zentralafrika gearbeitet. 2013 hat er seine Firma in den USA gegründet. Rund 100 Sicherheitsprofis arbeiten für The Draco Group, die meisten sind ehemalige Militärangehörige. Die Firma bietet das gesamte Spektrum von Security-Dienstleistungen an – von Personenschutz über Sicherheitsanalysen bis zum Wachdienst.
Für Siegelman ist Sicherheit »die Fähigkeit, sein Umfeld zu kontrollieren«. Die zentralen Elemente seien eine ausgefeilte Technologie, strikte Protokolle und Menschen, die in der Lage sind, schnell effizient zu reagieren, wenn etwas passiere.
Siegelman hebt hervor, dass sein Unternehmen »nicht politisch korrekt« sei, wie er es nennt. Denn das kulturelle Paradigma des positiven Denkens sei bei Sicherheitsfragen kontraproduktiv. »Nur wenn man von einem negativen Zukunftsszenario ausgeht, kann man sich wirkungsvoll vorbereiten.« Und zwar mit allen notwendigen Mitteln, ohne falsche Scheu vor Urteilen und Vorurteilen.
Heute patrouillieren bewaffnete Wachleute auf dem Gelände der Synagoge.
Ein Mantra, das bisweilen zu überraschten – und überraschenden – Reaktionen bei seinen Kunden führt. Vor Kurzem gab er einer Gruppe orthodoxer Rabbiner eine Sicherheitsberatung. Als die Rabbiner fragten, wie sie sich und ihre Gemeinde besser schützen könnten, zog Siegelman ein Gewehr aus seinem Rucksack und legte es auf den Tisch. Die Rabbiner schreckten zurück, schüttelten die Köpfe. Der Anblick von Waffen würde ihre Mitglieder verschrecken, sagten sie. Dann, nach einer Pause, sagte die Ehefrau des obersten Rabbiners, die einzige Frau im Raum: »Bring die Gewehre.« Heute patrouillieren bewaffnete Wachleute der Draco Group auf dem Gelände der Synagoge.
Siegelman ist seit Jahren gut vernetzt in der jüdischen Gemeinde in Atlanta. Seine Kontakte in Israel und seine Erfahrung in der israelischen Armee öffnen ihm Türen bei amerikanischen Juden. Generell allerdings unterscheiden sich private Sicherheitsdienste in den USA stark in der Qualität der Ausbildung, der Zertifizierung und bei den Lizenzen.
Polizisten für Sicherheitsdienste
Wenn eine jüdische Einrichtung es sich finanziell leisten könne, »sollte sie Polizisten für ihre Sicherheitsdienste anheuern«, rät Brian Davis vom SCN – zumindest in der aktuellen Lage. Allerdings kosten Off-Duty-Polizisten deutlich mehr als private Sicherheitsleute. Aus gutem Grund: Polizisten sind in der Regel nach höheren Standards ausgebildet. Sie folgen einheitlichen Protokollen, können im Notfall schnell über Funk ihre Kollegen verständigen und Verstärkung anfordern. Außerdem haben sie die rechtliche Befugnis, verdächtige Personen zu durchsuchen und gegebenenfalls festzunehmen. »Private Sicherheitsdienste operieren häufig in einer Grauzone«, sagt Davis.
Wenn eine Synagoge, eine Schule oder ein Gemeindezentrum dennoch mit privaten Wachleuten arbeite, dann sei es wichtig, in ständigem Dialog zu stehen, betont der Polizist Fladrich – »einem Dialog zwischen der jüdischen Organisation, dem privaten Sicherheitsdienst und der Polizei« –, und gemeinsam die Abläufe für den Krisenfall zu trainieren.
Das Echo des Krieges in Israel – der wachsende Antisemitismus und die Sorge um die eigene Sicherheit – stellen jüdische Einrichtungen wie die Gemeinde Beth Shalom in Atlanta vor ein weiteres Dilemma, jenseits explodierender Kosten. »Wir wollen uns schützen, aber wir wollen nicht zur Festung werden«, sagt Rabbi Zimmerman. »Wir wollen eine offene Gemeinde bleiben, in der sich Menschen willkommen fühlen.« Doch für den Moment sei die Entscheidung klar: »Sicherheit steht über allem.«