Die Impasse Dragon ist erstaunlich kurz. In einem mehrstöckigen schmalen Gebäude am Ende der Sackgasse sind ein halbes Dutzend jüdischer Einrichtungen, Stiftungen und Organisationen untergebracht. Das Mittelmeer kann man hier nur vom Dach aus sehen. Marseille ist in dieser Gegend grau, beschaulich und still. So still wie die Schaufenster der jüdischen Buchhandlung »Kodech« um die Ecke in der Rue Dragon. Die offenen Kriminalitäts- und Drogenszenen in den Trabantenstädten im Norden, für die im vergangenen September die sozialistische Stadtteilbürgermeisterin den Einsatz der Armee forderte, sind weit weg.
Noch eine Ecke weiter verläuft die Rue Bréteuil, an der die Große Synagoge und das Consistoire Israélite liegen. Diese Straße führt hügelabwärts zum Alten Hafen und zur Hafenpromenade, aufgehübscht und verbreitert. Wer das Pech hatte, im Lauf des letzten Jahres im Zentrum von Marseille unterwegs zu sein, schluckte viel Staub, kam am Alten Hafen nur mäßig voran, schlecht zu Fuß und noch schlechter mit dem Auto.
Im Bezirk Joliette zieht man noch immer in hohem Tempo Geschäftshäuser hoch und Hoteltürme, dort werden einstige Hallen verwandelt in Büros und Ateliers für Kreative. Marseille, die diesjährige Europäische Kulturhauptstadt, will Aufbruch vermitteln. Und die »French Connection«-Berichterstattung vergessen machen. 400 Veranstaltungen sind angesetzt. Nicht nur in Marseille. Sondern in der ganzen Provence. Mit »Grandes Clameurs« wurde am 12. Januar das Kulturjahr eingeläutet, das große Geschrei rings um Marseilles Einkaufsmeile Canebière, wörtlich Hanfstraße, geriet dabei eher zum diskret mürrischen Gemurmel.
massalia Renitenz hat hier Tradition. »Was die Ancienneté angeht, kommt keine andere Stadt in Frankreich Marseille gleich. Paris war noch ein Pfahldorf auf einer Insel in der Seine, als seit knapp sechs Jahrhunderten, geschützt vor starken Winden durch seine ursprüngliche Felsbucht, ein vor Kais, Lagerhäusern und Festungswällen aus Rosenstein strotzender Hafen Schiffe aus allen Ländern des Mittelmeeres aufnahm: Massalia.« So die Historiker Roger Duchêne und Jean Contrucci am Anfang ihrer großen Monografie über die 2600 Jahre umfassende Geschichte der Stadt, die die Römer Massalia nannten.
Die südfranzösische Hafenstadt beherbergt heute, lässt man Israel außer Acht, die bedeutendste jüdische Gemeinde entlang der Mittelmeerküste. In Marseille leben rund 75.000 Juden – von denen der Großteil mittlerweile aus den zentralen Arrondissements weggezogen ist und in den Vororten wohnt. 44 Synagogen hat Marseille, die täglich von mehr als 5000 Betern aufgesucht werden. Es gibt 20 jüdische Studienzentren, 17 jüdische Schulen, ein Bet Din und derzeit 48 Rabbiner.
Im Hof der Großen Synagoge steht eine weiße Wand. Darauf sind in schwarzen Lettern die Namen der im Zweiten Weltkrieg aus Marseille deportierten 2500 Juden geschrieben. Wenn auch der älteste dokumentarische Beleg von Juden in Marseille aus dem frühen sechsten Jahrhundert datiert, im allgemeinen Gedächtnis verankert sind die jüdische Provence wegen der langen Sonderrolle im späten Mittelalter, da sie mehrere Jahrhunderte dem Vatikanstaat unterstand, und das jüdische Marseille als Zuflucht und Transitort ab 1940.
20er-Jahre Jüdische Reisende, Berichterstatter und Liebhaber dieser Region, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky oder Joseph Roth, schilderten atmosphärisch dicht eine Provence in den 20er-Jahren lange vor dem Ansturm des Massentourismus, auch eine Provence in den 30er- und 40er-Jahren während Einschüchterung und Angst um Leib und Leben, Verfolgung und Vernichtung. Jahre, die glücklich überlebt oder kurz vor der Auslöschung noch auf Papier gebannt wurden. Benjamin erschien Marseille im Jahr 1929 als »gelbes, angestocktes Seehundsgebiss, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt«. Die von ihm beschriebene kleine Passage de Lorette ist ungebrochen schmutzig. Dem Reporter Joseph Roth erschien Marseille als Ort früher Globalisierung, er sah hier gleichzeitig New York und Odessa, Alexandria und San Francisco, Singapur und Hamburg.
Diese jüdischen Erfahrungswelten der Provence sind untergegangen, in den letzten fünf Jahrzehnten zudem von den urbanistischen und touristischen Aktivitäten an der Côte d’Azur, im Var, in und um Marseille und im Hinterland überbaut oder zur Gänze beseitigt. Wie das Haus in Villefranche, in dem Charlotte Salomon hoffte zu überleben und dann doch deportiert wurde – 1963 riss man es ab.
Wie die Villa Air-Bel in Marseille an der Avenue Jean Lombard, angemietet von Varian Fry und seinen Mitarbeitern vom »Emergency Rescue Committee«, die vom Hotel Splendide aus Tausenden Flüchtlingen Visa verschafften. In dem Anwesen in der Rue Grignan quartierten sie den rumänisch-französischen jüdischen Künstler Jacques Hérold und weitere Surrealisten ein. 1986 wurde die Villa geschleift, und sie und der schöne Park verschwanden unter den Fundamenten einer riesigen Wohnanlage.
Das Auffanglager Camp du Grand Arénas am Chemin de Sourmiou, ab 1945 wichtige Transitstation für Displaced Persons nach Palästina, ist nach 1966 mitsamt seinen 200 Baracken spurlos unterpflügt worden. Wo einst Schoa-Überlebende ihre Kinder in eine einklassige sefardische Schule schickten, steht heute eine riesige Supermarkthalle. Das Château Beaupin zwischen Avenue Joseph Vidal und Boulevard du Sablier, in dem der Lubawitscher Rebbe Schneor Zalman Schneersohn 1941 bis 1942 seine »Association des israélites pratiquants (Kehillat Haharedim)« installiert hatte: im Krieg zerstört.
Symbole Verschwunden und doch mit Händen zu greifen, symbolisch und doch konkret, mobil und dabei regional verankert: Das ist die Geschichte der Juden in Marseille und der Provence. Vieles ist heute nicht mehr zu sehen, ist in die Sedimente des Wissens, der Stadtarchäologie, in den Staub der Bibliotheken, in den Fundus von Bildarchiven abgesunken.
Dafür ist im vergangenen September, nach langen Jahren der Restaurierung, die Gedenkstätte des bekanntesten Internierungslagers in der Provence, »Les Milles«, wiedereröffnet worden, in Anwesenheit des französischen Premiers und von sieben Ministern – ein deutliches Zeichen gegen das Vergessen. Und gegen ein nur wenige Monate zurückliegendes Wahlergebnis. Im ersten Wahlgang zum Amt des Staatspräsidenten erhielt nämlich Marine Le Pen, die Kandidatin des Front National, in Marseille 23,4 Prozent der Stimmen, 5,5 Prozent mehr als im Landesdurchschnitt – und gerade einmal 12.000 Stimmen weniger als Nicolas Sarkozy.
Dass zur Eröffnung der Gedenkstätte »Les Milles« so viele Regierungsvertreter kamen, sehen viele als ein politisch-zivilgesellschaftliches Signal gegen die Morde in Toulouse im März vergangenen Jahres. Der islamistische Terrorist Mohamed Merah hatte damals vor einer jüdischen Schule drei Kinder und einen Rabbiner erschossen.
Angriff Seit dem Mordanschlag haben die antisemitischen Zwischenfälle in Frankreich stark zugenommen. Erst vergangene Woche wurde ein jüdischer junger Mann, der eine Kette mit einem Davidstern trug, am Hauptbahnhof in Marseille zwei Mal unmittelbar hintereinander von Gruppen junger Männer geschlagen und bestohlen. Die Angreifer beschimpften ihn als »dreckigen Juden«.
Doug Saunders, Europakorrespondent der kanadischen Zeitung »The Globe and Mail«, schrieb nach dem Mordanschlag in Toulouse: »Die Juden von Marseille finden sich, wie auch viele andere Juden in Europa, in einer erschreckenden Lage.« Sie seien zwischen zwei Bedrohungen gefangen: »Die erste, gewalttätig und kriminell, kommt aus dem Kreis der Menschen um sie herum, von den Kindern arabischer Freunde und Nachbarn. Die zweite ist eine politische, die sich selbst als Lösung deklariert, aber nichts außer Konflikt und Drohung mit sich bringt«, so Saunders.
Im Sommer soll Marseilles neues Musée des Civilisations de l’Europe de la Méditerranée (MuCEM) öffnen. Ob dort auch die jüdische Geschichte im internationalen Ost-West-Zusammenhang zu sehen sein wird? Das Museum steht nämlich an historischer Stelle: an J4, der alten Anlegestelle für Atlantikdampfer, die einst jüdische Flüchtlinge aus Europa in Sicherheit brachten.
Ende Februar erscheint Alexander Kluys Buch »Jüdisches Marseille und die Provence«. Mandelbaum, Wien 2013, 256 S., 19,90 €