Reportage

Seit 2500 Jahren in Chalkida

Vor einigen Wochen ist im westgriechischen Ioannina Geschichte geschrieben worden. Zum ersten Mal wurde ein romanio­tischer Jude zum Bürgermeister einer Stadt gewählt. Der Sozialdemokrat Moses Elisaf konnte im zweiten Wahlgang mit Unterstützung der konservativen Nea Dimokratia als Außenseiter die meisten Wähler überzeugen.

Der Zentralrat der jüdischen Gemeinden in Griechenland begrüßte die Wahl des ersten jüdischen Bürgermeisters und kommentierte: »Moses Elisaf möchte nicht Bürgermeister werden, weil er nichts Besseres zu tun hat. Nein, er ist ein anerkannter Arzt und Hochschullehrer, mit internationaler Anerkennung. Geboren und aufgewachsen in Ioannina, fehlte er nur während seiner Studienzeit an der Universität Athen.«

Synagogen In Griechenland leben heute knapp 5000 Romanioten in neun Gemeinden. Die romaniotische zählt zu den ältesten jüdischen Gemeinschaften und gilt in Europa als die älteste überhaupt.

Romaniotische Synagogen gibt es in Griechenland, in Israel und in New York. Die nachweislich älteste romaniotische Gemeinde der Welt besteht seit fast 2600 Jahren in Chalkida, der Hauptstadt der griechischen Insel Euböa. Dort ist jüdisches Leben seit dem Jahr 586 v.d.Z. belegt.

Den Namen der Stadt – Chalkida wird auch Chalkis genannt – führen Wissenschaftler auf das semitische Wort »chalek« zurück, was so viel wie »aufspalten« bedeutet. Eine Besonderheit der Romanioten in Griechenland ist, dass sie seit jeher die Kleidung und Sprache der Griechen übernommen haben.

Mehr als 2500 Jahre ununterbrochene Präsenz vor Ort ist etwas, das in diesem Jahr allein aus Israel 40 Reisegruppen anlockt. Eftychia Kosti und ihre Cousine Lily führen die Touristen durch die Synagoge und über den jüdischen Friedhof. Nur noch 66 Gemeindemitglieder leben in der Inselhauptstadt, ein Dutzend kommt regelmäßig in die Synagoge. Nach der Schoa zogen viele Juden nach Athen oder wanderten in die USA oder nach Israel aus.

In ihrer langen Geschichte haben die Romanioten Erdbeben, Seuchen und mehrfach wechselnde Besatzer überstanden. Man nimmt an, dass sie in der Folge der Phönizier als Händler über die Insel Euböa und von dort weiter nach Theben kamen. In der hellenistischen Periode waren sie ebenso etabliert wie während der byzantinischen Periode.

Venezianer Von 1205 bis 1470 herrschten die Venezianer über Euböa, sie nannten Chalkis Negroponte. Sie legten den Juden hohe Steuern auf, nahmen ihnen die Bürgerrechte und zwangen sie, das Amt des Scharfrichters zu übernehmen.

Nach den Venezianern kamen mit Mohammed dem Eroberer 1470 die Osmanen. Sie forderten weiterhin hohe Steuern und setzten die Entrechtung fort. Damals litt die Gemeinde unter einer starken Abwanderung ihrer Mitglieder nach Theben, blieb aber präsent.

Vermutlich kamen die Romanioten nach den Phöniziern als Händler auf die Insel.

Steine mit hebräischen Inschriften finden sich überall in der Stadt. Alte Grabmale werden im Museum in der Karababa, der Burg von Chalkida, ausgestellt. »Selbst in der orthodoxen Bischofskirche der Stadt gibt es Steine jüdischer Bauwerke«, bemerkt Eftychia Kosti und zeigt auf eine Straße direkt gegenüber der Synagoge. »Hier stand früher ein unterkellertes jüdisches Patrizierhaus. Es wurde für die Straße enteignet. Die Amphoren aus dem Keller sind nun in der Karababa zu sehen.«

Chalkis, in der Antike ein mächtiger Stadtstaat mit Kolonien in Griechenland (Chalkidiki) und Italien, ist auch der Heimatort von Mordechai Frizis, dem Weltkriegshelden, der den Truppen Mussolinis ihre erste Niederlage bescherte.

Bei der Rettung der jüdischen Bevölkerung Chalkidas kommt dem christlichen Metropoliten Gregorios eine Schlüsselrolle zu. Die italienischen Besatzer hatten die Juden zunächst nicht verfolgt. Nachdem die Italiener im September 1943 kapitulierten, forderte die deutsche Kommandantur von Gregorios eine Liste aller Juden. Gregorios lieferte eine seiten­lange Auflistung – er hatte seinen eigenen Namen hundertfach aufgeschrieben und so die 327 Namen der Gemeindemitglieder verschwiegen.

Torarolle Der Metropolit versteckte die Torarollen und andere Kultgegenstände aus der Synagoge in seinem Haus. Auch die Gendarmerie von Chalkida half: Sie versorgte die Juden mit amtlich gefälschten Ausweisen.

Die militärisch organisierten Partisanen der kommunistischen Nationalen Befreiungsfront EAM organisierten die Flucht der Romanioten. Man brachte sie in die unzugänglichen Berge der Insel, mit Fischerbooten in die Türkei und später nach Palästina.

Im Frühjahr 1943 hatte die EAM mit Flugblättern zum Schutz der Juden aufgerufen. »Brüder, die Besatzer bereiten ein weiteres Verbrechen gegen uns und unser Volk vor. (...) Wir müssen jedem verfolgten Juden Unterschlupf gewähren und jeden, der Juden verrät, bestrafen. Nieder mit jeglicher Verfolgung der Juden! Tod den Besatzern und jedem aktiven Verräter!«

Mehr als 1000 Juden aus ganz Griechenland wurden über die von der EAM organisierte Fluchtroute über die Insel Euböa gerettet.

Einige schlossen sich selbst dem Widerstand an. Eine von ihnen war Sarika Isaak Joshua, eine Nichte des an der Front gefallenen Weltkriegshelden Mordechai Frizis. Sie kämpfte später in Israel für die Hagana. Entgegen anderen Angaben lebt sie auch heute noch in Israel.

Besatzer Trotz der Aufrufe der EAM, Juden zu unterstützen, wurden 24 Gemeindemitglieder verraten. 17 von ihnen wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sechs kehrten nach der Schoa aus dem Lager zurück. Ein junger Mann, Simon Frangis, wurde nach seiner Flucht von den Nazi-Besatzern aufgegriffen und sollte exekutiert werden. Doch er überlebte das Erschießungskommando, wurde aber von einem griechischen Helfer der Wehrmacht verraten. Dennoch gilt als bemerkenswert, dass die Griechen nach dem Holocaust all das ihnen anvertraute Vermögen in vollem Umfang den jüdischen Eigentümern zurückgaben.

Mehrmals fiel die Synagoge Bränden zum Opfer – immer am Karfreitag.

Solidarität, aber auch Hass und Verrat finden sich oft in der langen jüdischen Geschichte von Chalkis. Einige Romanioten aus der Stadt spielten 1821 beim Aufstand der Griechen gegen die osmanischen Besatzer eine wichtige Rolle. Zwei Familien, Cohen und Krispin, werden in den Geschichtsbüchern besonders hervorgehoben.

Die dunkle Seite der Geschichte: Mehrmals – »immer am Karfreitag!«, sagt Eftychia Kosti – fiel die Synagoge der Stadt Brandanschlägen zum Opfer. Und stets wurde nach den Bränden am alten Ort eine neue Synagoge errichtet.

Am Karfreitag des Jahres 1843 – Euböa stand inzwischen unter griechischer Herrschaft, und im Zentrum von Chalkida lebten rund 400 Juden – legten Brandstifter erneut Feuer. Bis auf drei Torarollen aus dem 13. und 14. Jahrhundert verbrannten sämtliche Schriftstücke sowie die Bibliothek und das Archiv der Gemeinde. Drei Säulen der heutigen Synagoge haben sämtliche Brände überstanden. »Die stammen aus dem fünften Jahrhundert«, sagt Eftychia Kosti nicht ohne Stolz.

Mit den Säulen entstand am Ort der alten Synagoge das neue, 1849 fertiggestellte Bethaus. Es liegt in der Kotsou-Straße, die durch das ehemalige jüdische Viertel führt. Die Stadtmauern von Chalkida wurden 1890 abgerissen, damit man die in einer Art Festung liegende Stadt vergrößern konnte. Auch heute noch ist die Kotsou-Straße eine der Hauptverkehrsadern der Stadt.

Die Synagoge ist, wie in der Diaspora üblich, nicht das größte Gebäude der Stadt. Doch verglichen mit den engen Grundstücken im Zentrum hat sie auch heute noch recht große Ausmaße. Sie ist zwar kleiner als die Bischofskirche, aber größer als die Moschee der Stadt. Die religiösen Orte der drei Buchreligionen liegen in Chalkida zu Fuß nur knapp zwei Minuten voneinander entfernt.

SPonsorin Den Bau der Synagoge 1849 ermöglichte Sophie de Marbois, die Herzogin von Piacenza. Die 1785 in Pennsylvania geborene Tochter eines französischen Diplomaten und einer amerikanischen Mutter hatte den Herzog von Piacenza geheiratet, sich später aber von ihm entfremdet. Sie hatte sich im griechischen Freiheitskampf engagiert und stiftete den Griechen zahlreiche Bauwerke.

Nachdem 1837 ihre Tochter gestorben war, distanzierte sich die Herzogin vom Christentum und wandte sich dem Judentum zu. Mit ihrem beachtlichen Vermögen unterstützte sie den Bau der neuen Synagoge. Sophie de Marbois starb 1854. Bis heute wird sie in Griechenland verehrt.

Einer der bedeutendsten griechischen Maler, Nikos Engonopoulos, ein Vertreter des Surrealismus, bildete die neue Synagoge auf einem seiner Gemälde ab.

Ende des 19. Jahrhunderts besuchte der britische Bankier und Kunstsammler Ferdinand de Rothschild Chalkis. Er spendete eine große Geldsumme für die Renovierung des 17.000 Quadratmeter großen jüdischen Friedhofs. Der Begräbnisort verfügt über eine Halle für die Beerdigungszeremonien, einen Tahararaum und ein Wärterhäuschen. Die Straße, die heute am Friedhof vorbeiführt, heißt »Odos Evraion Martyron« – »Straße der jüdischen Märtyrer«.

Als Ende des vergangenen Jahrhunderts knapp 600 Grabsteine des Friedhofs restauriert wurden, entdeckte man, dass auffallend viele zu Gräbern von Rabbinern gehören. Heute gibt es keinen Rabbiner mehr in Chalkis. Gelegentlich reist einer aus Athen an. Die Grabsteine jedoch zeugen davon, dass die jüdische Gemeinde der Stadt einst ein spirituelles Zentrum war.

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