USA

Sehnsucht nach Rindsrouladen

Jahrzehntelang Restaurantkritikerin der New York Times: Mimi Sheraton (88) Foto: Wolfgang Wesener

Es ist 80 Jahre her, dass Mimi Sheraton diese Rindsrouladen gekostet hat, doch wenn sie daran denkt, dann leuchten ihre Augen noch heute, und ihr Mund verzieht sich zu einem glückseligen Lächeln. Ihr Gaumen erinnert sich dann an jede Nuance dieser Köstlichkeit, an die Gurken und Karotten der Füllung, den scharfen Senf und das zarte Rindfleisch, das sie umhüllt.

Mimi Sheraton hat seitdem so gut gegessen, wie es nur wenigen Menschen in ihrem Leben vergönnt ist. Sie war jahrzehntelang Restaurantkritikerin der New York Times; die besten Köche der Welt haben sich ins Zeug gelegt, um sie zu beeindrucken. Und doch meint man, diese Rindsrouladen seien das Beste gewesen, das ihr je über die Lippen gekommen ist, wenn sie davon schwärmt.

Brownstone Sheraton sitzt auf dem Sofa des geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmers ihres dreistöckigen Brownstones an der 12th Street, mitten im idyllischen Greenwich Village. Auf ihrem Schoß hält die 88-Jährige stolz die Jubiläumsausgabe ihres ersten Kochbuchs. 1964, vor 50 Jahren, hat sie das erste und lange Zeit einzige deutsche Kochbuch in englischer Sprache verfasst. Schuld daran waren die Rouladen.

Die Rouladen, um die es geht, waren die Rouladen von Anna Müller, der deutschen Haushälterin der Familie Solomon, wie Mimi (Miriam) vor ihrer ersten Ehe mit Nachnamen hieß. Anna Müller kam aus Frankfurt am Main. Sie war eine der vielen Deutschen, die vor Wirtschaftskrise und Depression in die Neue Welt geflüchtet waren. Dass sie bei einer gut situierten jüdischen Kaufmannsfamilie in Brooklyn unterkam, war damals nicht ungewöhnlich.

Überhaupt war das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in New York bis mindestens Mitte der 30er-Jahre gänzlich unverkrampft. Mimi Sheraton erinnert sich an die Bäckerei Ebeling mitten im damals jüdischen Viertel Flatbush, von deren Streuselkuchen die Anwohner nicht genug bekommen konnten. Sie erinnert sich an das österreichisch-deutsche Lokal Lüchow an der 14ten Straße, wo jüdische Familien besonders in der Vorweihnachtszeit hinpilgerten, weil es da so festlich war und es so köstliche Apfelpfannkuchen gab. Und sie erinnert sich an die »Kleine Bäckerei« im deutschen Stadtteil Yorkville, wo es Baumkuchen gab, eine Leckerei, die man heute in den gesamten USA vergebens sucht.

exil »Ich glaube, es war eine natürliche Affinität«, sagt Mimi Sheraton. Gerade hier, im amerikanischen Exil, hätten Deutsche und osteuropäische Juden wie ihre Familie ihre gemeinsamen Wurzeln entdeckt. Das macht die Feinschmeckerin natürlich vor allem am Essen fest: »Die deutsche und die jüdische Küche sind sich sehr ähnlich«, sagt sie. »Wir haben das gleiche Gebäck, wir kochen und würzen das Fleisch ähnlich, wir kochen Suppen mit Wurzelgemüse, wir machen vieles mit Schmalz. Die deutsche Küche ist uns jüdischen Einwanderern viel näher als etwa die mediterrane.«

In ihrer Familie war diese Affinität zu deftiger deutscher Kost besonders ausgeprägt – schließlich war ihre Großmutter väterlicherseits Berlinerin, und die Eltern ihrer Mutter hatten auf dem Weg in die Neue Welt drei Jahre in Bremen zugebracht. Deshalb konnte Anna Müller sogar Mimis Großvater, einen Rabbiner aus Galizien, für ihr Holsteiner Schnitzel begeistern. Und das, obwohl Mimis Großeltern streng koscher lebten. »Sie haben immer ihr eigenes Pappgeschirr mit zu uns nach Hause gebracht.«

So ist für Mimi Sheraton die Liebe zur deutschen Küche auch ein Stück weit eine Art, eine Verbindung zum deutschen Teil ihrer Herkunft herzustellen, eine Art, ihrer Berliner Großmutter nahe zu sein, deren Namen sie trägt.

machtergreifung Die Romanze zwischen den deutschen und den jüdischen New Yorkern hielt dem Dritten Reich jedoch nicht stand. Spätestens mit der Machtergreifung in Berlin machten sich die Nazis auch in Yorkville breit. »Man konnte dort überall den Völkischen Beobachter kaufen, und der deutsche Bund, der den Nazis nahestand, hielt in den Bierlokalen Versammlungen ab. Die Juden sind dann nach ’34 nicht mehr dort hingegangen«, erinnert sich Mimi Sheraton.

Auch Anna Müller und ihre Rouladen gingen in dieser Zeit den Solomons verloren. »Sie hat sich in einen Deutschen aus Yorkville verliebt«, erinnert sich Mimi, »Otto hieß der.« Otto war ein Bundler, ein Nazi-Sympathisant, und er wollte nicht, dass seine Anna weiter für Juden arbeitet.

Weltausstellung Mimi Solomon war noch jung damals, bei Kriegsausbruch gerade einmal 13. So genau verstand sie noch nicht, was in Europa passierte. Nur einzelne Erinnerungen hat sie an diese Zeit, die sie erst im Nachhinein einordnen konnte. Sie kann sich an Hitlers krächzende Stimme aus dem Kurzwellenradio erinnern und an Gerüchte, dass die Juden in Deutschland und Polen die Straße mit Bleiche schrubben mussten. Sie kann sich daran erinnern, dass nach Ausbruch des Krieges bei der Weltausstellung in New York ein Pavillon nach dem anderen schloss und auf dem Gelände nach und nach die Lichter ausgingen. Und sie kann sich an die zornigen Reden ihres Vaters beim Abendessen erinnern, als es darum ging, dass Präsident Roosevelt den jüdischen Flüchtlingen die Einreise nicht erleichterte.

Sheraton kann sich aber auch daran erinnern, dass all das ihrer Familie den Appetit an deutscher Küche nicht verdarb. »Warum hätten wir aufhören sollen, Streuselkuchen und Frankfurter Würstchen zu essen?«, fragt sie mit einem Lächeln, das sie um Jahrzehnte jünger aussehen lässt. »Das hätte den Krieg auch nicht schneller beendet. Wir haben ja auch nicht aufgehört, Mozart und Beethoven zu hören.«

Mimi Sheraton konnte das immer auseinanderhalten: die deutsche Kultur und die deutsche Barbarei, Beethoven und Hitler, Königsberger Marzipan und Dachau. Deshalb hielt sie nach dem Krieg auch nichts davon ab, so schnell es ging, quer durch Deutschland zu reisen. »Wenn ich alle Länder vermeiden würde, die etwas Schlimmes gemacht haben«, sagt sie lakonisch, »dann käme ich nicht weit.«

trümmer Die Reise durch die Bundesrepublik im Jahr 1953 hat die damals erst 26-jährige Journalistin zutiefst beeindruckt und ein Leben lang geprägt. Es war eine Tour der wilden Gegensätze durch ein Land, das für die behütete New Yorkerin exotisch gewesen sein muss: Da waren die noch halb zerstörten Städte Hamburg, Frankfurt, Freiburg und München, die Mimi Sheraton ansteuerte, in denen sie aber zwischen den Trümmern jenes romantische Deutschland fand, von dem sie wie viele Amerikaner von klein auf träumte.

Es gab Weißwurstfrühstück am Viktualienmarkt, Apfelweinwirtschaften in Frankfurt und den Hamburger Fischmarkt. Mimi bereiste den Rhein, berauschte sich am bayrischen Barock, an Rothenburg ob der Tauber und an den Ludwigsschlössern – und verliebte sich, trotz der schrecklichen Vergangenheit, unsterblich in dieses Land.

Die Sehnsucht nach Fachwerkromantik, Märchenschlössern, Wildgulasch und Schwarzwälder Kirschtorte ließ Mimi nicht mehr los. Kaum zurück in New York, schlug sie ihren Verlegern ein deutsches Kochbuch vor – auch, um einen Vorwand zu haben, wieder nach Deutschland zu reisen.

1961 war es so weit: Mimi Sheraton stand mit einem Ticket nach Tempelhof am John-F.-Kennedy-Flughafen, den Koffer voller Adressen von Köchen und Restaurants von Berlin bis Garmisch. Gesponsert wurde die Tour von der Lufthansa – wohl auch, weil es sich gut machte, dass eine erfolgreiche jüdische Amerikanerin so großes Interesse am neuen Deutschland zeigte.

reisen Es wurde die erste von zahllosen Reisen nach Deutschland. Es gab kein Land, das sie und ihr Mann lieber besuchten. Als Ski-Enthusiast und Bergsteiger liebte er die Alpen, während sie die Kunstgalerien in München besuchte und ihre jährlich wachsenden Kontakte pflegte. Zu dem Koch Eckart Witzigmann etwa in den späteren Jahren oder der deutschen Journalistin Ursula Heinzelmann, die sie als »gute Freundin« bezeichnet.

Auch bei diesen Freundschaften, so sagt Sheraton, spielte die Nazi-Vergangenheit keine Rolle. »Sicher hat man in den ersten Jahren, wenn man einen älteren Herren gesehen hat, immer gedacht: Wo war der wohl damals?« Aber das sei mit der Zeit immer mehr verflogen.

Die New Yorker Jüdin blendete Deutschlands dunkle Seite einfach aus. Oder ließ sich dadurch zumindest ihre Freude an den schönen Seiten nicht verderben. Dabei half sicherlich auch, dass niemand aus ihrer Familie in den Lagern umgekommen ist. »Es war bei uns nicht so wie bei vielen anderen jüdischen Familien, wo man nach dem Krieg am Küchentisch saß und sich fragte: ›Weißt du, was mit Onkel Jascha oder Oma Judith passiert ist?«

Flohmärkte Sheratons letzte Reise nach Deutschland liegt inzwischen schon mehr als zehn Jahre zurück. Das Reisen ist beschwerlich geworden, und seit ihr Mann gestorben ist, macht es auch nicht mehr so viel Spaß. Das Deutschland, das Mimi Sheraton so liebt, lebt nur noch in ihren Erinnerungen, in den Backformen und alten Küchengeräten, die sie von deutschen Flohmärkten mitgebracht hat. Und natürlich in ihrem Kochbuch, aus dem sie manchmal für sich selbst ein Gericht zubereitet.

Wenn sie die Sehnsucht ganz schlimm übermannt, dann setzt sie sich in ein Taxi und fährt in eines der neuen deutschen Restaurants, die in New York in letzter Zeit so en vogue sind. Dort kennt man sie und hat immer einen Tisch für sie frei. Und wenn ihr dann etwa Kurt Gutenbrunner in seinem Lokal »Blaue Gans« sein legendäres Wiener Schnitzel auftischt, dann ist das für Mimi Sheraton ein ganz klein wenig so wie damals, als Anna Müller sonntags in Flatbush Rouladen machte.

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