Am 20. März in Toulouse: Der lokale Vorsitzende des jüdischen Dachverbands CRIF, Franck Touboul, überreicht Präsident Emmanuel Macron ein Geschenk. »Es ist eine Mesusa. Sie möge Ihnen Glück spenden, denn Sie haben einen wichtigen Termin vor sich, für den ich Ihnen alles Gute wünsche. Behatzlacha!« Der Saal lacht, denn Franck Touboul ist nicht der Einzige, der sich angesichts des Höhenflugs populistischer Kandidaten eine Wiederwahl des französischen Staatschefs wünscht.
Anders als sein Vorgänger François Hollande genießt Macron großes Ansehen innerhalb der jüdischen Gemeinde. Umfragen zufolge ist seine Wiederwahl recht wahrscheinlich. Der Abstand zwischen ihm (26 Prozent) und seiner rechtspopulistischen Rivalin Marine Le Pen (21 Prozent) hat sich zwar seit der vergangenen Woche verringert. Trotzdem hat Macron immer noch fünf Prozentpunkte Vorsprung. Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich an diesem Sonntag schließen die letzten Wahllokale um 20 Uhr. Erste Hochrechungen werden ebenfalls um 20 Uhr erwartet.
DINNER Um sich einen Überblick über die politischen Ansichten der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs zu verschaffen, genügt ein Besuch im jüdischen Dachverband CRIF. Im Februar hat die Organisation im Louvre ein Dinner organisiert, zu dem einige Kandidatinnen und Kandidaten eingeladen waren, andere wiederum nicht.
Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo kommt zu nahezu jeder CRIF-Veranstaltung, obwohl die Gäste die sozialistische Kandidatin für die französische Präsidentschaft nie außerordentlich warmherzig empfangen. Traditionell steht die jüdische Gemeinde in Frankreich den rechtskonservativen Politikern näher als den sozialistischen. Das trifft vor allem auf den ehemaligen Präsidenten Jacques Chirac zu, der als Erster die französische Mitverantwortung für die Judendeportation anerkannte, und auch für Nicolas Sarkozy.
Valérie Pécresse, der aktuellen Kandidatin der Partei Les Républicains, wird im Gegensatz zu ihrer sozialistischen Konkurrentin mehr Enthusiasmus entgegengebracht. Beim Dinner des CRIF kam sogar der Vorsitzende Francis Kalifat zu ihr, um ihr seine Tochter vorzustellen.
kandidaten Drei der wichtigsten Kandidaten wurden im Februar jedoch nicht zur Veranstaltung eingeladen: Jean-Luc Mélenchon, Marine Le Pen und Éric Zemmour. Letzterer wird zu einem Prüfstein für die jüdische Gemeinde. »Es ist kein Geheimnis: Viele Juden und Jüdinnen werden am 10. April für Éric Zemmour stimmen«, sagt die jüdische Soziologin N., die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Ihren Untersuchungen zufolge könnten bis zu 30 Prozent von ihnen den Rechtsextremisten wählen. Bei den rund 50.000 französischen Staatsbürgern in Israel könnte der Wert auf über die Hälfte klettern.
Auf dem Dinner des CRIF echauffiert sich eine der Gäste über die Ausladung Éric Zemmours: »Na klar, seine Aussagen über die Juden im Zweiten Weltkrieg sind verwerflich, aber wäre er für die heutigen Juden wirklich ein schlechter Präsident?« Sie ist mit ihrer Einstellung offensichtlich nicht die Einzige.
»Viele Juden werden am 10. April für Éric Zemmour stimmen«, sagt eine jüdische Soziologin.
Die Soziologin N. meint, dies liege an einer generellen Tendenz in der französischen Gesellschaft. »Die jüdische Gemeinde bleibt vom populistischen Drive nicht verschont, genauso wie der Rest der Bevölkerung. Éric Zemmour liegt hier zwar bei 30 Prozentpunkten, doch fast niemand mehr stimmt für Marine Le Pen. Wenn man also alle rechtsextremen Stimmen zusammenzählt, macht das etwa ein Drittel aller Wahlberechtigten aus – genauso wie bei der Gesamtbevölkerung«, erklärt die Soziologin.
Éric Zemmour macht aus der angeblichen Islamisierung Frankreichs sein Hauptwahlthema. Niemand spricht so exzessiv über Sicherheits- und Migrationspolitik wie der ehemalige Essayist mit den jüdisch-algerischen Wurzeln.
JEREMY COHEN So ist er zum Beispiel am 4. April der erste Kandidat, der den tödlichen Unfall von Jeremy Cohen anspricht. Am 17. Februar wurde ein jüdischer Jugendlicher in einem Vorort von Paris von einer Tram überfahren und starb später an seinen Verletzungen. Seine Familienangehörigen waren lange davon überzeugt, es handle sich um einen antisemitischen Vorfall.
Diesen Montag, also rund sechs Wochen später, tauchte ein Zeugenvideo auf, das die Aussagen der Familie Cohen bestätigte: Jeremy trug eine Kippa, wurde von einer Gruppe Jugendlicher herumgeschubst und geschlagen. Als er wegrannte, erfasste ihn die Tram. Ob Jeremy aufgrund seines Judentums verprügelt wurde, ist im Nachhinein juristisch schwer zu überprüfen. Dennoch äußerten sich nur Éric Zemmour und Marine Le Pen zum Vorfall, als die meisten Medien und Politiker anfangs schwiegen. Vor allem in der französischen Linken scheint der steigende Antisemitismus kein Problem darzustellen.
Nicht nur hat der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon am zehnten Jahrestag des islamistischen Anschlags auf die jüdische Schule »Ohr Torah« eine gewaltige Wahlkampf-Veranstaltung in Paris organisiert, sondern er hat in seiner Rede auch kein einziges Mal das Attentat oder das Antisemitismusproblem angesprochen. Darüber hinaus vertritt seine Partei La France Insoumise, das »unbeugsame Frankreich«, eine klar antizionistische Haltung.
Als vergangene Woche in Israel elf Menschen ermordet wurden, schwiegen Jean-Luc Mélenchon und seine Parteileute. Dem jüdischen Politologen Jean-Yves Camus zufolge hängt das mit seiner Wahlstrategie zusammen, denn er wolle seine muslimische Wählerschaft nicht abschrecken, auf die er bei der Präsidentschaftswahl angewiesen sei.
MINDERHEIT Die Meinung teilt auch Simone Rodan-Benzaquen, Vorsitzende des American Jewish Committee (AJC) in Europa: »Antisemitismus ist heute einfach anders, und er kommt leider von einer Minderheit, die selbst unter Diskriminierung leidet. Doch man kann in einer Minderheit sein und trotzdem selbst rassistisch sein.« Die französische Linke tue sich schwer, dies anzuerkennen, erklärt die Vorsitzende von AJC Europe.
Viele linke Juden befinden sich daher in einem Dilemma. Nahezu niemand von ihnen wird am kommenden Sonntag für Jean-Luc Mélenchon stimmen, das bestätigen die Untersuchungen der Soziologin N. Andererseits haben alle anderen Kandidaten des linken Spektrums den Umfragen zufolge fast keine Chancen, in die Stichwahl am 24. April zu gelangen. Unter anderem deshalb wird Emmanuel Macron vom linken Teil der jüdischen Bevölkerung fast einhellig unterstützt.