Ausgerechnet am Internationalen Holocaust-Gedenktag gerieten sich die Premierminister Polens und Israels, Mateusz Morawiecki und Benjamin Netanjahu, in die Haare. Mit einem neuen Gesetz will Polens nationalpopulistische Regierung verhindern, dass künftig im In- oder Ausland über polnische Nazi-Kollaboration in der Zeit der deutschen Besatzung debattiert wird.
Das Gesetzesprojekt, das der Präsident noch unterschreiben muss, droht all jenen ein Bußgeld oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren an, die »öffentlich der polnischen Nation oder dem polnischen Staat faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen zuschreiben, die durch das Dritte Deutsche Reich begangen wurden«.
Angeblich soll das Gesetz lediglich den »guten Ruf Polens« schützen und verhindern, dass ausländische Journalisten über »polnische Todeslager« schreiben, wenn sie eigentlich nur den Ort benennen wollen.
auschwitz-leugnung Dass Netanjahu sowie Minister aus seinem Kabinett noch am Samstag reagierten, überraschte in Polen viele. Das polnische Gesetz lag 2016 schon einmal vor und konnte bereits damals nur durch eine rasche Intervention der Jerusalemer Schoa-Gedenkstatte Yad Vashem verhindert werden.
Der renommierte Holocaustforscher Yehuda Bauer verortete das Gesetz damals »in der Nähe der Auschwitzleugnung«. Denn es werde all jene kriminalisieren, die zum Thema polnische Pogrome und polnische Kollaboration mit den Nazis wissenschaftlich arbeiten. Dabei wisse jeder, dass auch Polen am Judenmord beteiligt waren. Wer dies leugne, so Bauer damals, mache sich ebenfalls der Holocaustleugnung schuldig.
So änderte Anna Azari, Israels Botschafterin in Polen, am Samstag während der Gedenkfeier im ehemaligen SS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ihre Rede ab und forderte Polens Parlamentarier auf, das Gesetz noch einmal zu überarbeiten, da es auch die Opfer und Zeitzeugen treffen könne. In Israel betonte Premier Netanjahu: »Dieses Gesetz hat keine Grundlage. Ich bin entschieden dagegen. Man kann die Geschichte nicht ändern, und man darf den Holocaust nicht negieren.«
Im Zweiten Weltkrieg gab es Zehntausende polnischer Nazi-Kollaborateure, die sich an der »Judenjagd« der deutschen Besatzer beteiligten. Sie machten aus dem Unglück der Juden ein Geschäft, erpressten von ihnen ein Schutz- oder Schmiergeld (polnisch: Schmalz. Man nennt sie daher »Schmalzowniks«.) und verrieten sie dann doch häufig an Gestapo oder SS.
Zwei von drei Juden, denen die Flucht aus Ghettos oder Todeszügen gelang, kamen durch Verrat ums Leben, stellte der Holocaustforscher Jan Grabowski schon 2011 fest. Insgesamt verloren durch die Schmalzowniks bis zu 250.000 Juden ihr Leben, so Grabowski, der sich auch auf die Forschungen anderer Historiker beruft.
Schoa Die meisten der 3,3 Millionen Juden, die vor dem Krieg in Polen lebten, wurden von Deutschen und Österreichern ermordet. Auf dem Staatsgebiet Polens überlebten lediglich 40.000 Juden die Schoa.
Israels Bildungs- und Diasporaminister Naftali Bennett erklärte: »Es ist eine historische Tatsache, dass viele Polen beim Judenmord halfen, Juden auslieferten und erpressten, ja sogar während und nach dem Holocaust Juden selbst ermordeten.« Es sei »auch eine historische Tatsache, dass die Deutschen die Arbeits- und Todeslager in Polen initiierten, planten und bauten. Das ist die Wahrheit, und niemand wird sie umschreiben«. Bennett forderte Polens Regierung auf, das Gesetzesprojekt, das die »Wahrheit schändlich missachtet«, zurückzuziehen.
In New York zeigte Robert Singer, der Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses, Verständnis für die Befürchtung vieler Polen, dass der Ausdruck »polnisches Todeslager« als Täterzuschreibung missverstanden werden könnte, obwohl damit der Ort des Verbrechens gemeint sei. Es sei jedoch ein »schwerer Fehler Polens«, diese Wortwahl zu kriminalisieren. Besser sei eine Bildungskampagne.
»Das neue polnische Gesetz ist jedoch dadurch besonders anstößig«, so Singer, »dass es jede wirkliche Konfrontation mit einem der schrecklichsten Aspekte der Kriegsgeschichte Polens unmöglich macht: das Ausmaß, in dem die Polen vor Ort kollaboriert haben, um ihre jüdischen Nachbarn zu vernichten.«
Skandal Zwei Wochen vor dem Ausbruch des Streits zwischen Israel und Polen hatte Ryszard Czarnecki, Mitglied der polnischen Regierungspartei PiS und einer der Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, ebenfalls für Streit und einen handfesten Skandal gesorgt. »Früher hatten wir Schmalzowniks, heute haben wir Roza Gräfin von Thun und Hohenstein, die leider eine gewisse Tradition fortschreibt«, sagte Czarnecki, nachdem er im deutsch-französischen Kultursender Arte eine kritische Reportage gesehen hatte.
Eigentlich wollte er damit die Oppositionelle von der liberalen Bürgerplattform (PO) beleidigen, die sich in einer Fernsehdokumentation Sorgen um Polens Demokratie machte. In Wirklichkeit verhöhnte Czarnecki mit diesem Satz aber diejenigen Juden, die im Zweiten Weltkrieg von polnischen Judenverrätern, Schmalzowniks, erpresst wurden.
Roza Thun, die ihren durch Heirat erworbenen langen Nachnamen nur selten benutzt, befürchtet im Arte-Interview, dass es in Polen zu einer Diktatur komme, wenn die PiS ihre »Reformen« nicht zurücknehme, die den Polen immer mehr Freiheitsrechte aberkennen, die Gewaltenteilung aufheben, das Verfassungsgericht lähmen und die Demokratie demolieren.
Nichts anderes sagt auch die EU-Kommission seit Monaten. Inzwischen hat die Kommission sogar ein Strafverfahren gegen die PiS-Regierung nach Artikel 7 des EU-Vertrages eingeleitet.
Mehrfach wurde Czarnecki gefragt, inwiefern das Gespräch einer polnischen EU-Parlamentarierin mit einer deutschen Journalistin gleichzusetzen sei mit der Kriegssituation 1939–1945 und noch dazu mit dem Judenverrat polnischer Nazi-Kollaborateure. Doch immer weigerte sich Czarnecki, dies näher zu erläutern.
Als die Vorsitzenden der vier größten Fraktionen im Europäischen Parlament ein Verfahren starteten, Czarnecki von seinem Amt als Vizechef des Parlaments zu entheben, stellte sich Polens neuer Premier Mateusz Morawiecki hinter seinen Parteikollegen Czarnecki: »Manchmal fallen schärfere Worte, manchmal mildere. Ich bin der Ansicht, dass Czarnecki seinen Posten als Vizepräsident des Europäischen Parlaments nicht verlieren sollte.«
Auf der Gedenkfeier in Auschwitz hingegen behauptete Morawiecki, dass »wir keine Relativierung des Bösen zulassen«. Da schien er den Fall Czarnecki schon vergessen zu haben.
Diese Manöver gehören zur Geschichtspolitik der PiS, die den Polen den längst widerlegten »Helden und Opfer«-Mythos zurückgeben will und damit das moralische Überlegenheitsgefühl, als gesamtes Volk stets auf der richtigen Seite gestanden zu haben.
Schon vor Jahren formulierte die PiS die sogenannte »Lex Gross«, mit der es Historikern wie Jan Tomasz Gross verboten werden sollte, über polnische Pogrome an Juden zu schreiben.
pogrome In seinem Buch Nachbarn hatte Gross vor fast 20 Jahren aufgedeckt, dass es am 10. Juli 1941 im nordostpolnischen Jedwabne zu einem von den deutschen Nazis angestifteten Pogrom gekommen war, bei dem die katholischen Einwohner ihre jüdischen Nachbarn ermordeten.
Der Gedenkstein in Jedwabne mit der falschen Inschrift »Gedenkort an den Judenmord. Die Gestapo und die nationalsozialistische Gendarmerie verbrannten hier 1600 Personen bei lebendigem Leib« musste entfernt werden. In der sich über Jahre hinziehenden historischen Debatte kam heraus, dass es nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 mehr als 60 Pogrome von Polen an Juden gegeben hat.
Auch nach dem Krieg ging das Morden weiter: In Krakau, Rzeszow und Kielce kam es zu Pogromen an heimkehrenden Holocaust-Überlebenden. Insbesondere in der zentralpolnischen Stadt Kielce fürchteten Katholiken, die in die Wohnungen der deportierten oder geflüchteten Juden eingezogen waren, dass sie diese den rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben müssten. Nach dem Pogrom in Kielce, bei dem mehr als 40 Juden ermordet und viele schwer verletzt wurden, setzte eine Massenpanik ein: Rund 200.000 überlebende Juden verließen ihre Heimat Polen.
Nicht nur Jan Tomasz Gross, der bis vor Kurzem an der Princeton University lehrte, sondern auch Jan Zbigniew Grabowski, der einen Geschichtslehrstuhl an der kanadischen Universität Ottawa innehat, erwarb sich in den vergangenen Jahren große Verdienste um die kritische Aufarbeitung der polnisch-jüdischen Geschichte.
Grabowski gehört einer Historikergruppe an, die sich im Warschauer »Zentrum zur Erforschung der Judenvernichtung« zusammengeschlossen hat und seit 2005 das wissenschaftliche Jahrbuch Judenvernichtung. Studien und Materialien herausgibt.
Schon 2003 publizierte Barbara Engelking, die spätere Chefin des Zentrums, mit dem Essay »Sehr geehrter Herr Gistapo« eine erste Lokalstudie zu den Warschauer Schmalzowniks in den Jahren 1940 und 1941. Kurz darauf erschien Jan Grabowskis Anschlussstudie Ich kenne diesen Juden über Denunziationen von Juden bis zur Liquidierung des Warschauer Ghettos 1943.
Rechte Publizisten und Historiker versuchen regelmäßig, diesen Essay wie auch den Sammelband der Gruppe Schlüssel und Kasse als »Geschichtsschreibung der Scham« oder auch direkt als »Geschichtsfälschung« zu diskreditieren.
Verteidigung Mitte 2017 trommelte schließlich die Vereinigung »Reduta zur Verteidigung des guten Rufes Polens«, die eng mit dem Warschauer Außenministerium zusammenarbeitet, mehr als 100 polnische Wissenschaftler zusammen, die dem international renommierten Schoaforscher in einem offenen Brief vorwarfen, den Polen eine Mittäterschaft an der Schoa zuzuschreiben, nur weil es die polnische »dunkelblaue Polizei« gegeben habe.
Die Wissenschaftler, darunter kein einziger Historiker, der sich mit dem Thema »polnisch-jüdische Beziehungen« beschäftigt hatte, forderten Grabowski auf, die »polnische Nation nicht mehr zu verleumden« und »zur würdigen Haltung eines Wissenschaftlers« zurückzukehren. Da der Historiker »das Saatkorn der Lüge« international gestreut habe, versandte Reduta den Protestbrief nicht nur an Grabowskis Universität in Ottawa, sondern auch an zahlreiche Institutionen und die internationale Presse, um vor Grabowski zu warnen. So erfuhr weltweit die seriöse Historikerzunft von den Forschungen zu den polnischen Kollaborateuren im Zweiten Weltkrieg.
Vor Kurzem nun kündigte das Warschauer Zentrum zur Erforschung der Judenvernichtung an, dass es im Frühjahr zwei Bände zu den Rettungsversuchen von Juden in den Dörfern und Kreisen herausgeben wolle. »Erst die Studien in der Provinz machen klar, wie groß die Gefahr für Juden war, die einem Ghetto entfliehen konnten. Die wenigsten konnten auf Hilfe der örtlichen Bevölkerung rechnen«, sagt Barbara Engelking. »Überall lauerten Schmalzowniks.«
Ob das Gesetz, die 2016 erstmals vorgelegte »Lex Gross«, nun doch noch kommt, wie die Abstimmung im Abgeordnetenhaus am vergangenen Freitag nahelegt, war Anfang der Woche nach der massiven Kritik aus Israel und vom Jüdischen Weltkongress offen.
Polens Staatspräsident Andrzej Duda sagte am Montag im polnischen Staatsfernsehen, er sei »erstaunt« über Israels »heftige Reaktion«. Doch Polen könne »absolut nicht zurückweichen. Wir haben das Recht, die historische Wahrheit zu verteidigen«.
Für das Europäische Parlament aber wird es schwierig werden, nun noch einen Vizepräsidenten aus Polen zu dulden, der jüdische Opfer der polnischen Nazi-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg verhöhnt – um sich selbst zu profilieren und eine Oppsitionelle zu beleidigen.