Zwei Uhr nachts. Das Baby trommelt gegen die Bauchwand. Es ist unruhig, in wenigen Tagen soll die Geburt sein. Auch die Mutter kann nicht schlafen. Und so wälzen sich beide hin und her, bis der jungen Frau das »Majßele« einfällt, ein jiddisches Märchenlied aus eigenen Kindertagen. Damit hatte ihre Mutter sie einst in den Schlaf gesungen.
Und so singt auch sie es nun leise ihrem Sohn vor: »Am Himmel ein Wölkchen schwimmt, ein Wölkchen ganz geschwind. Ob Wolke, Wölkchen, ja und nein, kann es doch bloß ein Märchen sein.«
Das Baby im Bauch hält inne, lässt sich von der Melodie einlullen und schläft wieder ein. Mit ihm auch die Geigerin Roza Ziatek-Czarnota. Sie ist eine von drei Autorinnen, die kürzlich in Polen das sehr persönlich gehaltene Familienliederbuch Auf der Suche nach dem goldenen Apfel herausgegeben haben.
Erinnerungen »Das Buch war schon lange in mir. Ich habe viel mit meiner Tochter Roza und auch mit meiner Schwester Dorota darüber gesprochen«, erzählt die Philosophin, Feuilletonistin und Übersetzerin Bella Szwarcman-Czarnota. »In unserer Familie wurde die jüdische Tradition vor allem über Lieder weitergegeben. Meine Mutter war eine ausgebildete Sängerin. Die ganze Familie hat viel gesungen.«
Sie erinnert sich gern an die gemeinsamen Liederabende im niederschlesischen Swidnica (Schweidnitz) und später in Warschau: »Jeden Sonntag traf sich die ganze Familie bei uns oder bei einer der Tanten, und dann sangen wir in einem vierstimmigen Chor.« Das waren vor allem jiddische und polnische Lieder, aber auch russische und hebräische. Bei den jiddischen überwogen der Kinder wegen die Schlaf- und Wiegenlieder. Doch im Liederbuch gibt es auch ein jiddisches Wecklied für den »kleinen Faulpelz« am nächsten Morgen und mit »Eins und zwei« ein lustiges Spaziergängerlied.
»Tante Fejgi wiederum hatte ein ganz eigenes Repertoire«, berichtet die Komponistin und Musikkritikerin Dorota Szwarcman. »Tante Fejgi war die älteste Schwester unserer Mutter und sang eigentlich ununterbrochen: bei der Hausarbeit, beim Spazierengehen, beim Einkaufen. Viele dieser Lieder waren sogenannte Niggunim, chassidische Lieder ohne Worte.«
Später fiel ihr auf, dass das Repertoire der Tante von niemandem sonst mehr gesungen wurde und auch die Noten und Texte ihrer Lieder nirgends verzeichnet waren. Die älteren Mitglieder des chassidischen Hofes, auf dem ihre Tante Fejgi einst aufwuchs, wurden in der Schoa ermordet. Nur die Jüngeren konnten sich durch die rechtzeitige Flucht in die Sowjetunion retten, doch die meisten hatten sich die reiche Kultur nicht mehr aneignen können. Jeder chassidische Hof hatte eigene Lieder, Legenden und Traditionen.
»Irgendwann entschloss ich mich endlich, diese Lieder aufzunehmen, und drückte Tante Fejgi ein Mikrofon in die Hand. Später hörte ich dann die Bänder ab und schrieb die Noten und Texte auf. Doch die ausgewählten Lieder im Buch stellen nur einen kleinen Teil ihres großen Repertoires dar.«
Schtejt in Feld a Bejmele,
hot es grine Zwejgelech,
sizt derojf a Fejgele,
macht es zu di Ejgelech.
Steht im Feld ein Bäumelein,
hat es grüne Zweigelein,
sitzt darauf ein Vögelein,
macht es zu die Äugelein.
Ojf di grine Zwejgelech
wakßt a goldn Epele.
Mach zu, majn Kind, di Ejgelech,
a Broche ojf dajn Kepele.
Auf den grünen Zweigelein
wächst ein goldnes Äpfelchen.
Mach zu, mein Kind, die Äugelein,
ein Segen auf dein Köpfchen.
Fast alle renommierten und auf Jiddisch schreibenden Autoren rechneten es sich zur Ehre an, auch Wiegen- und Kinderlieder zu schreiben. So hatte der Klassiker der jiddischen Literatur, Jizchok Leib Perez, den Text zu »Schtejt in Feld a Bejmele« geschrieben und der berühmte jüdische Komponist Michl Gelbart die Melodie dazu. Die Mutter sang dieses Lied den Töchtern Bella und Dorota abends am Bett besonders gern vor.
Das goldene Äpfelchen in diesem Lied hatte es schon der kleinen Bella angetan. Sie liebte es, die »Geduld der Wörter« auszuprobieren: Wenn Kepele (Köpfchen) dem Epele (Äpfelchen) entspreche und Kepl (kleiner Kopf) dem Epl (Apfel), dann müsse es logischerweise neben dem Kop (Kopf) auch einen Op geben, setzte sie ihren Eltern altklug auseinander und nahm sich den größten Apfel. Einen »Op« im Sinne eines großen Apfels gibt es aber in keinem jiddischen Wörterbuch.
Legende Doch die Suche nach dem goldenen Apfel, so der Titel des Familien-Liederbuches, gaben Bella, Dorota und Roza bis heute nicht auf. Die Legende vom goldenen Apfel taucht schon in der Bibel auf und dann immer wieder in religionsphilosophischen Texten. »Ein gutes, zur rechten Zeit gesprochenes Wort ist wie ein goldener Apfel«, heißt es etwa bei König Salomon. Der Philosoph Maimonides merkte in seinem bahnbrechenden Werk Führer der Unschlüssigen an, dass der goldene Apfel von einer fein ziselierten Silberschale umgeben sei. Wer den Apfel nur von Weitem sehe oder ihn oberflächlich betrachte, der denke, er habe es mit einem silbernen Apfel zu tun. Nur der aufmerksame Beobachter erkenne, dass unter der silbernen Apfelschale der eigentliche goldene Apfel sei.
»Und so ist es nicht nur mit den Wörtern und Sätzen, sondern auch mit den Liedern, die Text und Melodie haben«, erläutert Bella Szwarcman-Czarnota. »Es kommt darauf an, beides zu erkennen: die silberne Schale und den goldenen Apfel in der Mitte. Zudem reicht es nicht, die Lieder nur zu singen, sie müssen auch gehört werden.«
Im Liederbuch gibt es daher nicht nur die Noten und den Text zu jedem Lied. Vielmehr verfasste Bella zu jedem Autor auch einen kurzen Artikel, während Roza die Noten suchte und Informationen zu den Komponisten zusammenstellte. Dorota fügte das Kapitel über die chassidischen Niggunim an.
»Was noch fehlt, ist eine CD«, sagt Bella. »Es soll eine zum Mitsingen sein, in Jiddisch selbstverständlich – für Mütter und Väter, Tanten und Onkel, die Großeltern und natürlich die Kinder.«
Bella Szwarcman-Czarnota, Roza Ziatek-Czarnota und Dorota Szwarcman: »W poszukiwaniu zlotego jablka. Lider buch«. Austeria, Kraków 2016, 200 S., 23,97 €