Der Hauptgedanke von Rosch Haschana und den Tagen der Ehrfurcht ist ein gerechtes Urteil. Die Menschen in der Ukraine leben diesen Gedanken seit mehr als anderthalb Jahren. Sie kämpfen furchtlos gegen die russischen Truppen und demonstrieren der Welt, dass sie an eine höhere Gerechtigkeit glauben.
Jüdischen Ukrainern ist der Gedanke des Gerichts am Neujahrsfest gerade in diesem Jahr sehr wichtig. Sie vertrauen auf Gott, der das Gute vom Bösen trennt, der jeden nach seinen Taten belohnt und in den Tagen um Rosch Haschana entscheidet, wer leben und wer sterben soll …
TRAUMATA Diese Zeit dient vor allem der Selbstbesinnung. Doch der Krieg erschwert dies, denn er traumatisiert und verhärtet die Menschen. Aber der gemeinsame Kampf verbindet sie, ganz gleich, welcher Religion sie angehören oder ob sie konfessionslos sind.
Für die Juden in der Ukraine ist es das zweite Rosch Haschana, das sie im Krieg erleben. Ludmila Beiter, die Assistentin des Rabbiners von Mariupol, erzählt, dass sich vor dem Krieg an den Neujahrstagen rund 120 Beter in der Gemeindesynagoge versammelten. Heute sind die jüdischen Flüchtlinge aus dem zerstörten Mariupol über die ganze Ukraine verstreut – von Czernowitz und Kolomyja im Westen bis Odessa und Saporischschja im Südosten. Viele weitere sind nach Israel gegangen oder flohen nach Europa.
Ljudmila Beiter selbst hat sich in Dnipro niedergelassen und sagt, dass sie, obwohl sie von der örtlichen Gemeinschaft herzlich aufgenommen worden sei, alle Feiertage, die sie fern der Heimat erlebt, als schwierig empfinde, denn sie sei es gewohnt, Organisatorin zu sein und nicht nur Teilnehmerin. »Wir alle aus Mariupol hoffen, dass wir uns am nächsten Rosch Haschana wieder in unserer Heimatstadt versammeln werden.«
invasion Im Gegensatz zur Synagoge in Mariupol war jene im Kiewer Stadtteil Podil seit Beginn des Krieges nicht einen einzigen Tag geschlossen. Im vergangenen Jahr kamen an Rosch Haschana rund 130 Menschen – ein paar weniger als vor der russischen Invasion.
Eugene Ziskind, der stellvertretende Vorsitzende des Synagogenvorstandes und Geschäftsführer der Vereinigung jüdischer religiöser Organisationen der Ukraine, erwartet in diesem Jahr aber wieder mehr Menschen. Viele von ihnen sind neu in der Gemeinde. Sie kamen als Binnenflüchtlinge.
Das heutige Gemeindeleben lässt sich nicht mit dem vor dem Krieg vergleichen.
Das heutige Gemeindeleben lässt sich nicht mit dem vor dem Krieg vergleichen. Früher gab es Kinder, die im Hof der Synagoge spielten, einen Kindergarten und eine Jeschiwa. Doch jetzt kommt oft nicht einmal mehr ein Minjan zustande.
BUNKER Vor Kurzem zog die erste jüdische Schule in Kiew auf das Gelände am Podil. Am alten Standort gab es keinen Bunker, doch der Keller der Synagoge ist als Schutzraum geeignet. Eugene hofft, dass die Schulkinder die Atmosphäre um die Synagoge zumindest ein wenig wiederbeleben.
Alla Krementschuk, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Irpin, verließ die Stadt sofort nach Ausbruch des Krieges und zog zu ihrer Tochter nach Budapest. Doch zu den Hohen Feiertagen kommt die Vorsitzende in ihre Heimatstadt, um sie mit der Gemeinde zu verbringen. Vor dem Krieg versammelten sich bis zu 50 Personen im örtlichen Gemeindezentrum.
Vergangenes Jahr fand Rosch Haschana unter Extrembedingungen statt – es gab keinen Strom, und die wenigen Gäste saßen mit Kerzen in der Kälte. Jetzt hat sich die Lage stabilisiert, die meisten Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Allerdings heulen in der Stadt immer wieder die Luftschutzsirenen, und viele ältere Gemeindemitglieder trauen sich nicht aus ihren Häusern.
grenze Von der Stadt Sumy bis zur russischen Grenze sind es nur 40 Kilometer. »Vor dem Krieg versammelten sich dort an den Feiertagen 100 bis 500 Menschen im Jüdischen Gemeindezentrum«, sagt die Gemeindevorsitzende Jelisaweta Scherstjuk. Im vergangenen Jahr aber war es zu gefährlich, sich an Rosch Haschana zu versammeln. Die erste öffentliche Veranstaltung in Sumy fand dann erst an Chanukka statt, doch das Zusammensein wurde durch einen Stromausfall beeinträchtigt.
Etliche Gemeindemitglieder seien inzwischen wieder zurückgekehrt, sagt Scherstjuk, doch rund ein Drittel ist nach wie vor im Ausland. Manche sind nach Polen gegangen, andere nach Deutschland, Israel oder Kanada. Aus diesem Grund werden einige Gemeindeveranstaltungen immer noch online abgehalten.
Diejenigen, die in der Stadt geblieben sind, unterstützen sich gegenseitig, und es gibt einige Freiwillige, die auch Menschen außerhalb der Gemeinde helfen. Vor Kurzem, erzählt Scherstjuk, sei in Sumy die jüdische Sonntagsschule eröffnet worden – »glücklicherweise an einem Tag ohne Raketenbeschuss«.
»Die Verwirrung hat sich ein wenig gelegt, aber die Menschen haben sich daran gewöhnt, in Angst zu leben«, sagt die Vorsitzende. »Das ist schrecklich.« Bisher gebe es zwar keine Panik, aber niemand wisse, was die Menschen im Winter erwarte. Für Rosch Haschana plant die Gemeinde ein Kinderfest im Schutzraum und eine Feier in der Synagoge. »Aber wenn die Sirene ertönt, müssen wir das Gebäude evakuieren. Wir leben hier und jetzt, und wenn wir schlafen gehen, wissen wir nicht, ob wir am nächsten Tag wieder aufwachen werden.«