Er hat Glück gehabt, seine Wohnung im zweiten Stock eines Apartmentgebäudes der Meyerland-Gegend von Houston hat kein Wasser abbekommen in der Flut nach Hurrikan Harvey. Jacob Kamaras sitzt im Trockenen, doch wenn er den Blick aus dem Fenster schweifen lässt, dann wird er trotzdem von Schwermut überwältigt.
Die Straßen von Meyerland und dem angrenzenden Willow Meadows, beides vornehmlich jüdische Wohngegenden von Houston, sind seit mehr als einer Woche überflutet. In der United Orthodox Synagogue stieg das Wasser vorübergehend auf drei Meter, das Bethaus ist inzwischen unbenutzbar. Die Torarolle der größten jüdischen Gemeinde der Stadt musste an einen sicheren Ort gebracht werden, die Gebete finden vorübergehend woanders statt.
evakuiert Das Wohnhaus von Gemeinderabbiner Barry Gelman wurde evakuiert. Mitsamt Familie konnte der Rabbiner per Boot gerettet und in Sicherheit gebracht werden. Mindestens 30 Mitglieder seiner Gemeinde sind obdachlos. Insgesamt wurden mehr als die Hälfte der Wohnungen und Häuser der jüdischen Gebiete überflutet, manche standen meterhoch unter Wasser.
Tropensturm Harvey war eine Katastrophe für die gesamte Stadt Houston und die Bevölkerung der texanischen Golfküste. Die jüdischen Gemeinden von Houston hat es jedoch besonders schwer getroffen. Rund 63.000 Mitglieder leben in der Stadt, beinahe drei Viertel von ihnen in Gebieten wie Meyerland und Willow Meadows, die von der Flut besonders schlimm betroffen sind.
Drei der fünf größeren Synagogen von Houston stehen unter Wasser, ebenso das Jewish Community Center und die meisten jüdischen Schulen. Rund 12.000 jüdische Senioren haben ihr Zuhause verloren. »Es hätte für uns Juden hier in Houston kaum schlimmer kommen können«, sagt Tarjan Baranowski, der Sprecher der Jewish Federation.
Jacob Kamaras wird angesichts dieser Tatsachen bange um die Perspektiven der Juden in Houston. »Wir müssen uns leider die Frage stellen, ob wir hier noch eine Zukunft haben«, schreibt der Journalist.
Kamaras Sorge entspringt allerdings nicht allein der Flutkatastrophe in diesem Jahr. Es ist vielmehr bereits das dritte Jahr hintereinander, in dem sich die jüdischen Wohnbezirke von Houston mit Hochwasser auseinandersetzen müssen.
Im April 2015 wurden nach einem tropischen Regen rund 2500 Haushalte in ganz Houston geflutet. 500 davon waren jüdische Haushalte. Die United Orthodox Synagogue erlitt damals einen Wasserschaden, der auf eine Million Dollar beziffert wurde. Die Jewish Federation von Houston schätzte damals, dass es 18 Monate dauern würde, bis sich die jüdische Bevölkerung wieder erholt haben würde. Mehr als dreieinhalb Millionen Dollar wurden für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt.
Doch die schönen Pläne waren mit einem Mal Makulatur, als nur elf Monate später erneut die besonders den Fluten ausgelieferten jüdischen Wohngebiete der Stadt überschwemmt wurden. Schon damals stellten sich viele Juden die Frage, wie es weitergehen soll. Die praktischen, finanziellen und psychologischen Barrieren zum Neubeginn schienen schier unüberwindbar.
Dennoch machte man sich daran, mit den vorhandenen Mitteln und einer enormen Solidarität die Häuser zu renovieren oder wiederaufzubauen. Aber nach dem dritten Schlag in drei Jahren, befürchtet Kamaras, könnten viele Gemeindemitglieder nun ihre Grenze erreicht haben. »Es erdrückt uns. Es überfordert uns im Moment beinahe, über irgendeinen Wiederaufbau auch nur nachzudenken.«
Bürokratie Den Juden von Houston geht es wie vielen ihrer nichtjüdischen Nachbarn. Die Versicherungsleistungen decken nicht einmal annähernd die Kosten für den Wiederaufbau – im dritten Jahr hintereinander schon gar nicht. Der Weg zu staatlicher Nothilfe ist lang und bürokratisch. Für viele wird der Gedanke immer verlockender, die Verluste hinzunehmen und einfach woanders neu anzufangen.
Ein Exodus der Juden aus der viertgrößten amerikanischen Großstadt wäre allerdings eine kulturelle Katastrophe. Die Wurzeln des Judentums in Texas gehen bis weit in die spanische Kolonialzeit zurück, als Texas zur neuen Heimat für viele sefardische Juden wurde. Die erste Synagoge in Houston wurde 1859 gegründet.
Seit 1945 ist die jüdische Bevölkerung Houstons stetig gewachsen. Nach der Schoa gab es eine große Einwanderungswelle aus Europa. Und seit den 80er-Jahren strömen Juden aus anderen Teilen der Vereinigten Staaten und aus der ganzen Welt wegen der wirtschaftlichen Möglichkeiten und der hohen Lebensqualität nach Houston. Zudem fühlten sich Juden in der Stadt immer wohl, weil sie ethnisch vielfältig und weltoffen ist.
Hoffnung macht vielen im Moment allein, wie stark der Zusammenhalt in der Gemeinde gerade in Notzeiten ist. Selbst diejenigen, deren eigenes Haus vom Hochwasser überschwemmt war, fuhren mit Kanus und Schlauchbauten hinaus, um Nachbarn zu retten. Jeder, der noch ein trockenes Zimmer hatte, nahm Menschen auf, deren Häuser unbewohnbar geworden waren.
Unterdessen strömten auch internationale Hilfsorganisationen wie IsraAID nach Houston, um bei der Notversorgung der jüdischen, aber auch der nichtjüdischen Bevölkerung zu helfen. Freiwillige aus Israel packten aus eigener Initiative die Koffer, um nach Houston zu reisen, so wie etwa Miriam Ballin, Leiterin eines Traumazentrums in Jerusalem, die nun Opfer in Texas betreut. »Es wäre falsch gewesen, unsere Ressourcen nicht zur Verfügung zu stellen«, sagt sie.
Israels Regierung kündigte am Montag einen Plan an, der jüdischen Gemeinde in Houston eine Million Dollar Nothilfe zu überweisen. »Der jüdische Staat wird daran gemessen, wie er reagiert, wenn unsere Brüder in der Krise sind«, sagte Diasporaminister Naftali Bennett in einer Erklärung. »Jahrelang standen die jüdischen Gemeinden Israel bei, als es ihre Hilfe brauchte. Jetzt ist es an der Reihe, Houstons jüdischer Gemeinde beizustehen.«
Rabbi Gelman von der United Orthodox Synagogue wärmt all diese Solidarität das Herz. Ob sie ausreicht, die Gemeinde vor Ort zu halten, müssen die kommenden Monate zeigen. Hurrikan Harvey stellt die Juden von Texas auf eine harte Probe.