Brasilien

Schmerzhafte Kerbe der Erinnerung

Die Holocaust-Gedenkstätte in Rio de Janeiro Foto: Andreas Nöthen

Die Skyline von Rio de Janeiro ist um eine Spitze reicher. Auf dem Gipfel des Morro do Pasmado im Stadtteil Botafogo ragt ein schlanker, heller Turm in die Höhe. Bei genauerem Hinsehen erkennt man: Er ist in zehn gleich große Elemente aufgeteilt. Nur am Fuß befindet sich eine tiefe Kerbe, wie bei einem Baum, der mit der Axt gefällt wird – was dem Monument, der neuen Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust, etwas Zerbrechliches und zugleich auch Leichtes, Schwereloses verleiht. »Die zehn Segmente symbolisieren die Zehn Gebote«, erklärt Alberto Flavio Rogienfisz, Verantwortlicher der Gedenkstätten-Verwaltung, die dem neuen, weithin sichtbaren Wahrzeichen inneliegende Bedeutung.

Für manche Kritiker ist das alles fast schon etwas zu gut sichtbar. Zwei Organisationen, das der UNESCO nahestehende »Comitê Brasileiro do Conselho Internacional de Monumentos e Sítios« (Icomos/Brasil) und das Nationale Institut für historisches und künstlerisches Erbe (Iphan), rügten, dass der Turm sich optisch wenig in die Umgebung einfügen würde. Dabei hatte der Rat für Architektur und Stadtplanung von Rio de Janeiro keine Bedenken angemeldet. Rogienfisz findet die Debatte übertrieben und deutet mit einer Handbewegung auf die wuchtigen umstehenden Wohnhochhäuser, gegen die das Monument fast schon filigran wirkt.

Olga Benario gilt als einziges brasilianisches Opfer

Die historischen Berührungspunkte Brasiliens mit dem Holocaust waren eher indirekt. In den 30er-Jahren suchten viele Menschen in dem Land Schutz vor Verfolgung, auch wenn die damalige Regierung von Getúlio Vargas lange Sympathie für das Naziregime hegte und sich erst spät auf die Seite der Alliierten stellte. Auch innerhalb der Bevölkerung gab es zahlreiche Unterstützer des Nationalsozialismus.

Die Jüdin und Sozialistin Olga Benario gilt als einziges brasilianisches Opfer des Holocaust: Nach einem Aufstand, den sie mitgeplant hatte, wurde sie, obwohl schwanger, an die Nationalsozialisten in Deutschland ausgeliefert. 1936 brachte sie in Berlin ihre Tochter zur Welt. Benario wurde 1942 zusammen mit anderen im KZ Ravensbrück inhaftierten Frauen in der Tötungsanstalt Bernburg in der Gaskammer ermordet.

Der Ansatz der Gedenkstätte in Rio de Janeiro ist es nicht, an eine brasilianische Perspektive der Schoa zu erinnern, sondern die Bevölkerung etwas allgemeiner mit den Konsequenzen von Verfolgung und Vernichtung sowie den Biografien der Opfer vertraut zu machen. »Viele Schulkinder haben noch nie davon gehört«, sagt Rogienfisz. Dass dabei nicht nur jüdische Schicksale, sondern auch die anderer verfolgter Gruppen – Schwarze, LGBTQ, Sinti und Roma – zu Wort kommen, passt gut in das Land, in dem zuletzt der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro immer wieder gegen Minderheiten wetterte und nur knapp seine Wiederwahl verpasste.

Anne Frank und Otto Weidt werden ausführlicher präsentiert

Bei der Präsentation setzt die Gedenkstätte ebenfalls auf audiovisuelle Reize. Porträts von Einzelpersonen, Gruppen und Familien stellen den direkten Bezug zum Betrachter her, während kurze Filmsequenzen einzelne Schicksale, wie das von Anne Frank oder Otto Weidt, etwas ausführlicher präsentieren.

Die Initiative für die Gedenkstätte geht auf den früheren Abgeordneten von Rio de Janeiro, Gérson Bergher, zurück. Er hatte den Vorschlag immer wieder in die Kommunalpolitik eingebracht und dicke Bretter gebohrt. Unter dem Bürgermeister Marcelo Crivella wurde das Projekt schließlich in Angriff genommen. Einzige Voraussetzung: Es dürfen keine öffentlichen Gelder verwendet werden.

Die Gelder für den Bau des architektonisch beeindruckenden und technisch aufwendig ausgestatteten unterirdischen Gedenkzentrums kamen von Spendern. Dabei griffen Unternehmen mit jüdischen Wurzeln wie das Immobilienunternehmen Multiplan oder die Bank Safra den Initiatoren des Projekts finanziell unter die Arme, zudem wollen sie auch den laufenden Betrieb unterstützen. Denn Einnahmen werden nicht generiert, der Eintritt ist frei.

Seit einem Jahr ist das »Monumento Memorial às Vítimas do Holocausto« geöffnet. In den ersten Wochen kamen bereits mehr als 30.000 Besucher.

USA

Loyal und radikal

Der künftige Präsident Donald Trump vergibt wichtige Ministerposten an Personen, die bislang nicht durch Kompetenz aufgefallen sind, sondern eher durch Kontroversen von sich reden machten

von Michael Thaidigsmann  21.11.2024

Nachruf

Der Vater des Budget-Tourismus ist tot

Arthur Frommer wurde 95 Jahre alt

von Imanuel Marcus  20.11.2024

New York/Malibu

»Mein Name ist Barbra«

Die Streisand-Autobiografie erscheint auf Deutsch

von Christina Horsten  20.11.2024

Schweiz

Konservative Christen gegen den ESC

Eine Minipartei erwirkt ein Referendum gegen das hohe Rahmenbudget für den Eurovision Song Contest. Dabei geht es auch um Israel

von Peter Bollag  19.11.2024

Italien

Schoa-Überlebende rügt Papst für Genozid-Kommentar

Edith Bruck ist 93 Jahre alt und mit Papst Franziskus befreundet. Jetzt hat sie ihn aber mit deutlichen Worten kritisiert

 19.11.2024

Medien

Ausweitung der Kampfzone

Die israelfeindlichen Täter haben die »NZZ« ganz bewusst zum Abschuss freigegeben. Ein Kommentar

von Nicole Dreyfus  19.11.2024

Tschechien

Oscar-reifer Held am Mikrofon

»Wellen« feiert den KZ-Überlebenden Milan Weiner, der 1968 die Sowjets in Schach hält

von Kilian Kirchgeßner  17.11.2024

USA

Impfgegner, Verschwörungstheoretiker, Gesundheitsminister

Donald Trump beruft mit Robert F. Kennedy einen Mann als Gesundheitsminister, der auch durch antisemitische Verschwörungstheorien von sich reden macht

von Michael Thaidigsmann  15.11.2024

Imanuels Interpreten (1)

Flora Purim: Das Unikum

Die in Rio de Janeiro geborene Sängerin liefert eine einzigartige Melange der Klänge

von Imanuel Marcus  15.11.2024