Luxemburg

Schlafende Konten

Länger als sieben Jahrzehnte hatte es gedauert, bis Luxemburgs Regierung 2015 eine Kollaboration des Landes mit dem NS-Regime einräumte. Es folgte eine öffentliche Bitte um Entschuldigung des liberalen Premierministers Xavier Bettel, der von »Grauzonen« sprach und davon, dass »nicht alle Helden waren«.

Das klinge so, »als würde man von einem Sturm sprechen, bei dem auch Bäume umgefallen sind«, sagt der Historiker Vincent Artuso heute rückblickend über die offizielle Rhetorik der Regierung. Im Zentrum der Hauptstadt wurde schließlich symbolträchtig ein Denkmal errichtet, und man brachte die bereits von der Regierung Juncker mit dem jüdischen Konsistorium vereinbarte Gründung einer Stiftung, der »Fondation pour la Mémoire de la Shoah«, auf den Weg.

Wiederaufbau Fragt man in der jüdischen Gemeinschaft nach, wieso es so lange gebraucht hat, so fällt immer wieder ein Stichwort: »soziale Kohäsion«.

»Mein Gefühl ist, dass die jüdische Gemeinschaft froh war, nach fünf Jahren Exil zurückzukommen und wieder zu Hause zu sein, wo sie sich an den Wiederaufbau machte«, meint die Journalistin Claude Wolf. Insbesondere die jüngste Geschichte habe die Juden gelehrt, nicht auf die Barrikaden zu gehen. Sie machten nicht freiwillig auf sich aufmerksam und hätten wohl deshalb lange Zeit keine Forderungen gestellt.

Für den Anwalt François Moyse ging es von Anfang an auch um die Deutungs­hoheit zwischen den in Luxemburg definierten drei »Opfergruppen«: »Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich zwei Gruppen mit dieser Erinnerung sofort beschäftigt, das sind die Resistenzler und die Zwangsrekrutierten. Diejenigen aus der jüdischen Gemeinschaft, die überlebt hatten, waren froh, wieder ein normales Leben zu führen. Während ungefähr 70 Jahren sind die Juden ganz aus dem kollektiven Narrativ des Zweiten Weltkriegs in Luxemburg verschwunden.«

Das derzeit gültige Gesetz sieht nur die Entschädigung von Staatsangehörigen vor.

Für den Historiker Vincent Artuso, der vor vier Jahren den sogenannten Artuso-Bericht zur Luxemburger Kollaboration veröffentlichte, gibt es noch eine weitere naheliegende Erklärung: »Es ging auch darum, zu vertuschen, dass der gesamte Staatsapparat weiter funktioniert hatte. Unter der deutschen Zivilverwaltung waren die Hauptposten von sogenannten Reichsdeutschen besetzt. Das waren aber nur eine Handvoll Leute.

Es war für das Deutsche Reich damals nicht möglich, Hunderte von Staatsbeamten oder Polizisten nach Luxemburg zu schicken.« Damit der Staatsapparat weiterhin funktionieren konnte, finde man vor, während und nach dem Krieg zum größten Teil dieselben Leute wieder. Bis heute wolle die luxemburgische Gesellschaft aber nicht akzeptieren, dass die meisten der damaligen Staatsbeamten »stille Kollaborateure« waren, so Artuso.

Spoliaton »Spoliation« lautet in Luxemburg der Begriff, unter den die Plünderung beziehungsweise Nicht-Rückerstattung jüdischen Besitzes subsumiert wird. Doch Entschädigungen für Juden, die nach der am 10. Mai 1940 erfolgten Besatzung Luxemburgs durch deutsche Truppen beraubt und enteignet wurden, sind bis heute nur an einen Bruchteil von rund 1000 Juden geflossen – etwa ein Viertel der damaligen jüdischen Bevölkerung.

Das Gesetz zur Entschädigung von Kriegsopfern sieht Entschädigungen allein für das Eigentum derjenigen vor, die zum Zeitpunkt ihres Aufenthalts Staatsangehörige des Großherzogtums Luxemburg waren.

Denn das 1950 verabschiedete Gesetz zur Entschädigung von Kriegsopfern (»dommages de guerre«) sieht Entschädigungen allein für das Eigentum derjenigen vor, die zum Zeitpunkt ihres Aufenthalts Staatsangehörige des Großherzogtums Luxemburg waren.

»Die Juden wurden als Opfergruppe zunächst überhaupt nicht miteinbezogen«, stellt der Rechtsanwalt und Präsident der in der Folge des Artuso-Berichts gegründeten Stiftung (Fondation pour la Mémoire de la Shoah), François Moyse, rückblickend fest.

abkommen Rund drei Viertel der Anfang der 40er-Jahre in Luxemburg ansässigen jüdischen Bevölkerung waren auf der Flucht und teilweise staatenlos. Rund 3000 ausländische Juden waren damit nach dem Krieg nicht von der nationalen Gesetzgebung betroffen. Zwar kam es zu bilateralen Abkommen zwischen Luxemburg und anderen Ländern, konkret wurde aber nie wirklich nachgeforscht, was enteignet worden war. Ganz besonders gilt dies auch für die Konten, über die die Luxemburger Banken bisher nie genau Auskunft gaben.

Die Großeltern der Journalistin Claude Wolf hatten Glück: Sie hatten keine großen Summen auf Bankkonten gelagert. »Beide Großeltern haben ihre Häuser zurückbekommen, zum Teil mit den dort zurückgelassenen Möbeln«, erinnert sich Wolf.

Neben der Anekdote vom Onkel, der bei einer Umzugsaktion sein Bild in einem Lastwagen entdeckt hatte, ist eine weitere Erinnerung hängen geblieben: »Meine Großeltern hatten einer Familie eine schöne Uhr anvertraut, die sie nach dem Krieg nicht mehr zurückbekamen. Mein Großvater hat jedoch immer gesagt, er höre sie in der Nachbarschaft irgendwo ticken.«

»All die Polen, Rumänen, die Staatenlosen ohne Pass wurden bis heute nicht entschädigt«, empört sich der ehemalige Präsident des Konsistoriums, Claude Marx. Der Tod von rund 1300 Luxemburger Juden sei dokumentiert, aber es gebe eine Grauzone von Menschen, die nicht in den Konzentrationslagern ermordet wurden, die einfach verschwunden sind, und von denen man bis heute nicht weiß, was mit ihnen geschehen ist.

»Die Juden sind aus dem kollektiven Narrativ des Zweiten Weltkriegs verschwunden«, meint der Anwalt François Moyse.

Über die Anzahl der individuellen »schlafenden« Bankkonten und die Höhe des konfiszierten Vermögens herrscht bis heute Ungewissheit. Der Historiker Paul Cerf bezifferte die damalige Höhe des beschlagnahmten jüdischen Eigentums auf rund 30 Millionen Reichsmark; dieser Wert geht auch aus NS-Akten hervor. Doch darüber, was zwischen dem 10. Mai 1940 und der Ankunft der Zivilverwaltung an jüdischem Eigentum gestohlen wurde, herrscht Ungewissheit. Denn es gab jede Menge Teppiche, Schmuck, Möbel und Gegenstände, die gestohlen, und nicht zuletzt Häuser, die besetzt wurden.

dokumente Claude Marx, der den Zweiten Weltkrieg als Kind versteckt in Frankreich überlebt hat, sitzt vor einem Stapel Dokumente in einem der Versammlungssäle der Großen Synagoge in Luxemburg-Stadt. Die jüdische Gemeinschaft sei damals schlecht informiert gewesen, erklärt er. Erst sei von 220 »schlafenden Konten« die Rede gewesen, später nur noch von 60.

Die Banken hätten von Anfang an die Auskunft verweigert. »Die Liste, die wir inoffiziell haben, scheint einfach nicht alles zu beinhalten, was wir denken, das noch da sein müsste – und wenn nicht, dann müsste es irgendwie Beweise geben, wieso es nun viel weniger Konten gibt. Zu sagen: ›Oh, es gibt ja heute nichts mehr oder fast nichts mehr‹, reicht nicht«, so François Moyse.

Dass das geraubte jüdische Eigentum in Luxemburg eines Tages ans Licht kommen und Entschädigungen unumgänglich würden, wurde schon in den Jahren der Regierung Juncker klar. Eine Kommis­sion saß neun Jahre lang zusammen und recherchierte. Ein Beamter wurde damit beauftragt, über die »Spoliation« zu recherchieren.

Bericht Dass der daraus resultierende Bericht dann korrigiert und in seiner Ursprungsfassung nie veröffentlicht wurde, ist für den Historiker Vincent Artuso abermals »eine Illustration davon, dass die heutige Regierung nicht mehr gewillt ist, dieses Thema zu behandeln und öffentlich zu diskutieren«.

Lange hatte sich die jüdische Gemeinschaft gewünscht, dass sich die USA dieses Themas annehmen würden.

Auch Claude Marx hat seine Zweifel: »Ich glaube, einige Historiker aus dem luxemburgischen Establishment haben dazu beigetragen, dass die Geschichte 70 Jahre lang nicht aufgeklärt wurde.«

Lange hatte sich die jüdische Gemeinschaft gewünscht, dass sich die USA dieses Themas annehmen würden. Vor einigen Monaten besuchte eine amerikanische Delegation Luxemburg, um für Berichte zu recherchieren, die die World Jewish Restitution Organization für alle an der Schoa beteiligten Länder vorlegen sollte, die noch keine oder unzureichende Entschädigungen gezahlt hatten. Ihr Vorschlag lautet, es müsse eine Überprüfung durch eine der großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erfolgen.

Die Regierung habe daraufhin beschlossen, einen Ausschuss aus Vertretern des Staates, der World Jewish Restitution Organization und der jüdischen Gemeinde in Luxemburg einzusetzen, um diese Aufgabe durchzuführen, erklärt François Moyse, der bei den Verhandlungen dabei war. Als inoffizieller Wert der Summe der Enteignungen kursiert derzeit eine Summe von 400.000 Dollar – wobei sich die seinerzeit 30 Millionen Reichsmark nur schwer umrechnen lassen.

rampenlicht In diesem Jahr, da Luxemburg die Präsidentschaft der »International Holocaust Remembrance Alliance« (IHRA) übernommen hat und zahlreiche Veranstaltungen rund um den Vorsitz stattfinden, steht das Land auch international verstärkt im Rampenlicht und zeigt sich grundsätzlich entgegenkommend.

Vincent Artuso vergleicht die derzeitige Situation Luxemburgs mit der Schweiz in den 90er-Jahren. Auch sie habe sich letztlich dem Druck beugen müssen.

Kürzlich besuchte eine amerikanische Delegation Luxemburg, um zu dem Thema zu recherchieren.

Als beispielhaft wertet Artuso das Vorgehen in Belgien. Das Land habe vor 20 Jahren einen Fonds von 115 Millionen Euro eingerichtet. »Das ist die Summe, die wissenschaftlich ermittelt wurde. Die Opfer und deren Nachkommen hatten daraufhin zwei Jahre Zeit, Entschädigungen zu beantragen. Zum Schluss wurden zwei Drittel dieser Summe an Opfer und deren Nachkommen gezahlt, und der Rest ging dann tatsächlich an eine Struktur, die der luxemburgischen ›Fondation pour la Mémoire de la Shoah‹ nahekommt«, so Artuso.

Auch Frankreich könne mit seiner Entschädigungspraxis durchaus als Vorbild dienen. Während in diesen beiden Ländern vor dem Zweiten Weltkrieg rund 100.000 beziehungsweise 300.000 Juden lebten, war die Zahl der Juden in Luxemburg bei Kriegsbeginn natürlich viel kleiner.

image »Proportional wird die Summe, die Luxemburg bezahlen wird, viel höher sein, weil die Regierung sich selbst in diese Lage gebracht hat«, mutmaßt Artuso. Man habe in Luxemburg das Thema so lange instrumentalisiert, wie es gut fürs Image war, sich offiziell entschuldigt, aber dann sei nichts gekommen, »nur Reden und Denkmale«.

»Die schlafenden Konten werden wir nie in ihrer Gesamtheit wiederherstellen. Das, was uns die Banque Générale, die Kreditbank, die Sparkasse und andere verheimlichen, werden wir nie herausfinden«, bedauert Claude Marx, der überzeugt davon ist, dass diese Konten nicht mehr auffindbar sind. »Wir prangern an, dass es noch immer keine Sicherheit gibt über den Umfang dieser Konten und die Details«, hält François Moyse fest. Doch welche Summe es auch sei, es sei vorgesehen, diese in die neu gegründete Stiftung, die »Fondation pour la Mémoire de la Shoah«, einfließen zu lassen.

Nun gehe es darum, wie man der Aufgabe der Entschädigungen nachkomme. Marx, der ehemalige Präsident des Konsistoriums, wünscht sich nicht nur, dass endlich all jene ausländischen und staatenlosen Juden entschädigt werden, die während der deutschen Besatzung enteignet wurden, sondern dass es auch eine moralische Anerkennung (»reconnaissance morale«) gibt. Denn es gibt Menschen in Luxemburg, die noch immer in psychologischer Behandlung sind, weil ihre Eltern deportiert wurden – doch man hat ihren Status bis heute nicht anerkannt.

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