Nach vielen Jahren soll endlich ein Schlussstrich unter die Debatte um Wiens umstrittenstes Denkmal gezogen werden: Der Marmorsockel mit der 4,50 hohen Bronzefigur des von 1897 bis 1910 amtierenden Bürgermeisters Karl Lueger auf dem nach ihm benannten Platz am Rande der Wiener Innenstadt – für viele ein Ort der Schande – wird um 3,5 Grad geneigt.
Umstritten wird dieser Ort auch in Zukunft bleiben, deutet man die Reaktionen auf die Entscheidung zur »Neigung« des Denkmals. Einen »Schlag ins Gesicht« nennt es etwa die Präsidentin der Jüdischen HochschülerInnenschaft (JöH), Victoria Borochov. Milder klingt es seitens der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG): »Es ist gut, dass endlich etwas geschieht«, sagt Generalsekretär Benjamin Nägele. Getan könne es damit jedoch nicht sein.
Die Gemeinde hält es für dringend erforderlich, den Karl-Lueger-Platz umzubenennen.
Lueger war radikaler Antisemit – zugleich aber der Mann, der Wien zu einem guten Teil sein heutiges Fin-de-Siècle-Gesicht verpasst hat. Als Lueger amtierte, war Wien das Zentrum eines Imperiums, das seinen absehbaren Niedergang mit Bauprojekten zu kompensieren suchte, eine Stadt voller Zuwanderer – und mit mehr als zwei Millionen Einwohnern die fünftgrößte Stadt der Welt.
otto wagner Lueger war es, der den Architekten Otto Wagner bauen ließ. Der Bau der Stadtbahn geht auf Luegers Konto und damit ein Teil des Streckennetzes der heutigen U-Bahn inklusive der vielen Jugendstil-Stationen. Lueger ließ Krankenhäuser bauen, die aufgrund ihrer Planung heute noch genutzt werden können. Und er bewerkstelligte die Versorgung der Stadt mit Gas, Strom und vor allem mit sauberem Quellwasser.
Zugleich war Lueger, Gründer der Christlichsozialen Partei, besessen von Judenhass. In einer Rede sagte er: »Wir in Wien sind Antisemiten.« Und sollten die Juden unser Vaterland bedrohen, »dann werden auch wir keine Gnade kennen«. Oder: In Österreich gehe es um »die Befreiung des christlichen Volkes aus der Vorherrschaft des Judentums«.
Lueger hatte Bezeichnungen für Juden aller sozialen Schichten parat: Waren sie reich, nannte er sie »Geldjuden«; waren sie Zuwanderer aus den Kronländern, nannte er sie »Betteljuden«; waren sie Journalisten, nannte er sie »Tintenjuden«. Er sagte: »Der Abgeordnete Popper hat behauptet, der Antisemitismus wird einmal zugrunde gehen. Gewiss, meine Herren, wird er einmal zugrunde gehen, aber erst dann, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen sein wird.«
Lueger gab frei heraus zu, sehr bewusst aufzustacheln. Er wird mit den Worten zitiert: »Ja, wissenʼs, der Antisemitismus is a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen; wenn man aber einmal oben is, kann man ihn nimmer brauchen, denn des is a Pöbelsport!« Lueger starb 1910. Das umstrittene Denkmal stammt aus dem Jahr 1926. Entworfen hat es Josef Müllner, ein Bildhauer mit großer Begeisterung für alles Deutschnationale.
POPULISMUS Sie wolle nicht, dass aufgehört werde, »über Lueger und seine Folgen, den Populismus und den politischen Antisemitismus nachzudenken«, so Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ). Daher müsse das Denkmal bleiben. Und auch sie geht nicht davon aus, dass die Debatten um Lueger damit vorbei sind: »Wenn Kunst zu einem hundertprozentigen Konsens aller führt, ist sie entweder keine Kunst oder nicht gut.«
Zwei Jahrzehnte dauert die Debatte über das Denkmal und über Lueger im weiteren Sinne bereits an. Es gab künstlerische Interventionen, Bemalungen und Farbattacken, die von Behördenseite allerdings mehr oder weniger akzeptiert wurden. 2012 wurde dann immerhin der nach Lueger benannte Abschnitt der Ringstraße umbenannt. Das Denkmal an anderer Stelle wollte man aber nicht anfassen.
Zuletzt waren bunte Holzsilhouetten herumdrapiert – eine Installation der Künstler Nicole Six und Paul Petritsch. Auf das Podest waren Schriftzüge wie »Nazi« oder »Schande« gesprayt worden. Eine Entscheidung über eine dauerhafte Lösung gab es allerdings nicht – nur zur Installation einer Tafel, auf der knapp Luegers Haltung gegenüber Juden thematisiert wird, reichte es. Kein Wort aber etwa zum Bildhauer.
»entsorgung« Druck kam in steter Regelmäßigkeit seitens der IKG. Erst im März hatte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, gefordert, das Denkmal zu »entsorgen«. Stattdessen sollte an dem Ort ein Schoa-Zentrum entstehen. Das wurde von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) abgelehnt.
Im Verlauf der Jahre gab es auch mehrmals Ausschreibungen, um das Denkmal zu kontextualisieren – Ideensammlungen, wie sich herausgestellt hat.
Im Verlauf der Jahre gab es auch mehrmals Ausschreibungen, um das Denkmal zu kontextualisieren – Ideensammlungen, wie sich herausgestellt hat. Denn mit der Neigung um 3,5 Grad hat die Stadt nicht auf einen im Zuge der letzten Ausschreibung im Herbst 2022 eingereichten Entwurf zurückgegriffen, sondern auf einen aus dem Jahr 2010. Es ist eine Entscheidung zu einer eher minimalistischen Kontextualisierung.
Forderungen von Schoa-Überlebenden, das Denkmal zu entfernen, seien damit erneut missachtet worden, sagt Victoria Borochov. Mit der »Schiefstellung« habe die Stadt eine weitere Chance vertan, »den Antisemitismus Luegers klar zu thematisieren«.
umbenennung Auch eine Umbenennung des Lueger-Platzes, auf dem das Denkmal steht, ist noch kein Thema. Dabei sei diese, so Benjamin Nägele, jetzt »dringend erforderlich«. Vor allem gehe es um eine »konsequente Vorgehensweise«. Denn »es gibt in ganz Österreich öffentliche Straßen, die nach Antisemiten benannt sind«. Vor allem, so Nägele, sei es entscheidend, dem »heutigen Antisemitismus in Politik und Gesellschaft entschieden entgegenzutreten und etwa keine Bündnisse mit geschichtsvergessenen Parteien einzugehen«.
Davon ist Österreich weit entfernt: Die rechtsextreme FPÖ liegt laut Umfragen gerade bei rund 30 Prozent. In den Regionen Salzburg und Niederösterreich regiert sie gemeinsam mit der konservativen ÖVP.