Grossbritannien

Scheidung perfekt

Der Austritt scheint besiegelt: Großbritannien wird in der Europäischen Union eine große Leerstelle hinterlassen. Foto: Thinkstock

Der Brexit – seit Dienstag beschlossene Sache – mag eine zutiefst britische Angelegenheit sein. Aber nicht nur England, Schottland, Wales und Nordirland machen das Vereinigte Königreich aus, sondern auch die Menschen verschiedenster Herkunft und Religion. So leben auch Juden im Inselreich. Im Jahr 1290 wurden sie von König Edward I. aus dem Land gejagt, doch ab Mitte des 17. Jahrhunderts konnten sich einige wieder in Großbritannien ansiedeln. Inzwischen ist die Zahl der Gemeindemitglieder auf etwa 300.000 gewachsen.

Manche von ihnen, wie der Chefredakteur der Londoner jüdischen Wochenzeitung »Jewish Chronicle«, Stephen Pollard, sind für den Brexit. Sie glauben, Großbritannien könne sich damit von den unguten Entwicklungen auf dem europäischen Festland abkoppeln. Nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 schrieb Pollard, er begrüße das Ergebnis, denn »unsere Befreiung von der EU wird den Extremismus unwahrscheinlicher machen«.

Pässe Doch Gemeindemitglieder, deren Vorfahren Flüchtlinge oder Schoa-Überlebende waren, beunruhigt der Gedanke an den Brexit. So erschienen in den Medien Berichte, dass etliche von ihnen sich um den Pass eines EU-Landes bemühen. Lord David Triesman gab im Oberhaus des Parlaments bekannt, dass er im Falle eines beschlossenen Brexits einen portugiesischen Pass beantragen würde. Andere, wie die Rabbinerin Julia Baroness Neuberger, seit 2004 Mitglied des House of Lords, denken laut darüber nach, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Julia Neubergers Schwager, David Neuberger of Abbotsbury, der Präsident des Supreme Court, hatte, gemeinsam mit zehn anderen Richtern, hervorgehoben, dass nur das britische Parlament Artikel 50 zum Verlassen der Europäischen Union aktivieren kann. Einer der Hauptanwälte in diesem Verfahren aufseiten der Kläger Gina Millers und Deir Tozetti Dos Santos war Lord David Pannick. Für seinen Einsatz musste er zahlreiche antisemitische Angriffe von Brexit-Befürwortern über sich ergehen lassen.

Im Februar erklärte der britisch-jüdische Sicherheitsdienst Community Security Trust (CST) in einem Bericht, es habe noch nie so viele antisemitische Vorfälle im Land gegeben wie in jüngster Zeit. Als eine der Ursachen nannte er das Referendum. Dies bedeute nicht, hob der Bericht hervor, dass Brexit-Anhänger per se Rassisten oder Antisemiten seien. Aber »die Atmosphäre einer verstärkten öffentlichen Diskussion in Sachen Antisemitismus, Rassismus, Einwanderung, Hassverbrechen ... kann bei Leuten, die ohnehin für die Ausführung von Hassverbrechen empfänglich sind, Aktivität stimulieren«. Andererseits habe das Brexit-Referendum unter potenziellen Opfern und Zeugen von Hassverbrechen die Sorge vor wachsendem Antisemitismus erhöht, so der Bericht weiter.

verschwörung Der antisemitische Vorwurf, es gebe eine jüdische Verschwörung gegen den Brexit, entspricht jedoch nicht den Tatsachen. So stimmten im Februar alle zehn jüdischen Tory-Abgeordneten des Unterhauses für die Verabschiedung von Artikel 50, obwohl sich sieben von ihnen vor dem Brexit-Referendum noch für Großbritanniens Verbleib in der EU starkgemacht hatten. Der konservative jüdische Abgeordnete Julian Lewis verzichtete gar auf sein Recht, in der Debatte eine sechsminütige Rede zu halten. Stattdessen gab er das kürzeste Statement aller Parlamentarier ab: »Meiner Meinung nach hat das Volk entschieden. Ich stimme dementsprechend.«

Nur zwei jüdische Labour-Abgeordnete aus Liverpool, Louise Ellman und Luciana Berger, stimmten gegen die Verabschiedung von Artikel 50 und widersetzten sich damit dem Fraktionszwang in der Arbeiterpartei. Ellman begründete ihre Entscheidung damit, dass sie besorgt darüber sei, welche Folgen es haben werde, wenn Großbritannien sich vom Europäischen Gerichtshof zurückzöge. Berger machte ihre Entscheidung daran fest, dass die Mehrheit beim Referendum nur knapp gewesen sei. Darüber hinaus sei sie besorgt, dass in Großbritannien ansässige Firmen in andere EU-Länder abwandern könnten.

Israel An Vorteile eines Brexits glaubt hingegen James Sorene, der Geschäftsführer des Britain Israel Communications and Research Centre (Bicom). Gegenüber der Huffington Post betonte er, der Handel zwischen Israel und Großbritannien erlebe in letzter Zeit ein Rekordwachstum. Eine starke Beziehung mit Israel sei für Großbritannien nach dem Verlassen der EU deshalb von wachsender Bedeutung. Aus diesem Grund wurde kürzlich eine neue Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit britisch-israelischen Handelsbeziehungen befasst.

Auch im House of Lords, wo die Mehrheit vergangene Woche Änderungen im Gesetzesentwurf der Regierung zum Verlassen der EU verabschiedete, gibt es jüdische Brexit-Befürworter. So zitierte Lord Daniel Finkelstein vor dem Oberhaus eine jüdische Anekdote. Darin hängt ein Mann an einem Ast über dem Abgrund und schreit: »Herr, ist da oben jemand?« Daraufhin bittet ihn eine Stimme vom Himmel, den Ast loszulassen. Der Mann schaut in die Tiefe, richtet sich wieder gen Himmel und fragt, ob es da vielleicht noch jemand anderen gäbe.

Finkelstein mahnte, mit dem Brexit verhalte es sich ähnlich. In Anspielung auf die inzwischen berühmt gewordenen Worte von Premierministerin Theresa May sagte Finkelstein: »Wir müssen den Ast loslassen. Brexit bedeutet Brexit.« Im House of Lords standen Finkelstein und andere Konservative einer von Labour und den Liberaldemokraten geführten Mehrheit gegenüber. Lord Peter Mandelson, jüdisches Labourmitglied des Oberhauses und früherer Minister unter Premier Tony Blair, behauptete, viele fühlten sich von der Regierung regelrecht »in einen Brexit gemobbt«.

Der ehemalige Lord Chief Justice, Harry Woolf, Nachfahre osteuropäischer Juden, fügte hinzu, diese Rechte müssten auf parlamentarischem Weg gesichert werden. Es gehe um ein moralisches Prinzip und möglicherweise auch um ein juristisches.

Rechte Mit großer Mehrheit stimmte das Oberhaus vergangene Woche für zwei Änderungen im Gesetzesentwurf zum Austritt nach Artikel 50. Diese hätten auch die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien abgesichert und dem Parlament das letzte Wort zum Brexit-Deal garantiert. Doch das Unterhaus stimmte am Montag dagegen.

Das Oberhaus hatte das Recht, den Gesetzesentwurf ein zweites Mal abzulehnen, doch die Lords seien nicht gewillt gewesen, weiter Pingpong zu spielen, sagten sie. Auch Lord David Pannick nicht, aufgrund dessen Mandanten es überhaupt zu den Debatten im Parlament gekommen war. Allerdings warnt Pannick die Regierung: Das Parlament werde in den nun bevorstehenden Diskussionen besondere Sorgfalt walten lassen, um die Rechtsstaatlichkeit des Landes zu wahren.

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