Ukraine

Schawuot in Kiew

Am ersten Tag des Schawuotfestes beschoss das russische Militär die Hauptstadt Kiew erneut mit Raketen. Foto: REUTERS/Vladyslav Sodel

Am frühen Sonntagmorgen, dem ersten Tag von Schawuot, sind in weiten Teilen der Stadt die Einwohner von gewaltigen Explosionen geweckt worden. Nach mehreren relativ ruhigen Wochen hat Russland die ukrainische Hauptstadt vom Kaspischen Meer aus mit Raketen angegriffen. Wieder war ihr Ziel, wie so oft zuvor, ein ziviles Unternehmen – und wieder erklärten offizielle russische Sprecher selbstbewusst, es hätten dort Panzer gestanden.

Es ist unmöglich, sich an die zynischen Lügen und an diese Grausamkeit zu gewöhnen. Es ist ebenso unmöglich, sich an das unheilvolle Pfeifen von Raketen über dem Wohnhaus zu gewöhnen und an das Gefühl, wenn die Erde von Explosionen in der Nähe bebt.

EVAKUIERUNGEN Die tägliche Arbeit der jüdischen Gemeinde beschränkt sich seit drei Monaten darauf, Menschen in Not zu helfen und Evakuierungen aus dem Kriegsgebiet und dem Ausland zu organisieren.
Das Büro des Verbands jüdischer Gemeinden und Organisationen der Ukraine (Vaad) befindet sich im Untergeschoss der ältesten Universität der Region, der Kyiv-Mohyla-Akademie, in Podil, dem historischen jüdischen Viertel von Kiew. Vor einigen Jahren renovierte die jüdische Gemeinde mithilfe von Sponsoren diesen Raum und richtete ihn neu ein, damit hier Jüdische Studien betrieben werden. Die Uni-Leitung begrüßte es, dass zukünftig Hebräisch und Jiddisch gelehrt und Kurse zu jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in den Lehrplan aufgenommen werden.

»Wir wollten uns für Kultur, Bildung und die Erhaltung des riesigen kulturellen Erbes des ukrainischen Judentums engagieren – das waren unsere Prioritäten«, sagt Vaad-Präsident Josef Zissels mit einem traurigen Lächeln.

Heute stehen die Klassenzimmer voller Kartons mit Lebensmitteln und Hygienebeuteln. Wie viele andere jüdische Organisationen engagiert sich der Vaad in der humanitären Hilfe für Binnenflüchtlinge und Menschen, die durch den Krieg ihre Arbeit verloren haben.

»Von dem Versuch, jedem bei allem zu helfen«, sagt Zissels, »gehen wir jetzt zu gezielteren Programmen über. Zum Beispiel haben wir eine Möglichkeit gefunden, die Familien der verstorbenen Rettungskräfte – Feuerwehrleute, Ärzte, Polizisten, Eisenbahner, Mitarbeiter des Ministeriums für Notsituationen – finanziell zu unterstützen.« In Kiew und der Umgebung hat der Vaad Kontakt zu Dutzenden solcher Familien aufgenommen. Sie erhalten vom Staat weniger Unterstützung als die Familien gefallener Soldaten.

Mit einem weiteren Hilfsprogramm versucht der Vaad, Flüchtlingsfamilien zu unterstützen, deren Väter in den vergangenen Wochen bei Kriegshandlungen umgekommen sind. Man organisiert Ferienunterkünfte in den Karpaten für die Mütter und Kinder, wo sie von Psychologen betreut werden.

ZEITUNG Der Krieg zwingt viele Organisationen und Institutionen, sich inhaltlich neu auszurichten. »Man kann nicht einfach so weitermachen«, sagt Mikhail Gold, Chefredakteur der jüdischen Online-Zeitung »Hadashot«. Eine Zeitung wie in Friedenszeiten mit Rubriken wie »Kunst« oder »Kino« sei momentan nicht möglich. Jetzt sammelt Gold Zeugenaussagen von Juden, die die Ukraine im Zusammenhang mit dem Krieg verlassen haben. »Exodus 2022« heißt das Projekt.

Die Gemeinde organisiert Ferienunterkünfte in den Karpaten für Kriegswaisen und Kriegswitwen.

Von besonderer Bedeutung seien die Geschichten derer, die die russische Besatzung erlebt haben, oder von Menschen, die aus einer Zone intensiver Feindseligkeiten geflohen sind, sagt Gold. Er hat mehr als 120 Personen interviewt und Zeugenaussagen gesammelt. Manche der aufgezeichneten Geschichten könnten eines Tages in zukünftigen Kriegsverbrecherprozessen als Beweismaterial verwen­det werden.

Für Mikhail Gold sind die Zeugnisse jüdischer Flüchtlinge von besonderem Interesse, denn als offizielle Ziele der russischen »Sonderoperation« gelten die angebliche Entnazifizierung der Ukraine und der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. »Besonders aufschlussreich«, so Gold, seien daher die Geschichten jüdischer Flüchtlinge, deren Leben »die Befreier vom Nationalsozialismus« zerstört hätten.

Ein junges Mädchen, das aus Mariupol fliehen konnte, sagt, dass sie, als die »Befreier« kamen, Angst hatte, ihre Kette mit dem Magen David weiterhin um den Hals zu tragen. Eine ältere Geschichtslehrerin erzählt, dass ein Schütze der russischen Stellvertreterkräfte in der selbst ernannten »Volksrepublik Donezk« (DNR) beim »Selektieren« ihr gegenüber aggressiv wurde, weil sie ein Buch über die Geschichte des Holocaust bei sich trug.

Alle Bewohner der besetzten östlichen Regionen der Ukraine werden selektiert – dies ist demütigend und wird von ungerechtfertigter Gewalt begleitet. Unnötig zu sagen, welche Assoziationen dieses Wort und das menschenverachtende Vorgehen bei jedem, der mit der Geschichte der Juden in Europa vertraut ist, hervorrufen.

»Es ist sinnlos, auf Verhandlungen zu hoffen«, resümiert Josef Zissels. »Russland muss besiegt werden.«

Chabad

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