Die Schaukel fliegt hoch in die Luft. Der kleine Janek juchzt vor Freude. »Noch mal«, ruft er seinem Vater zu. Doch der fängt den Fünfjährigen auf, wirbelt ihn zwei Mal um die eigene Achse und setzt ihn vor der Leiter zur Rutsche ab.
Die Kinder in der nordostpolnischen Metropole Bialystok lieben den Spielplatz im Zentralpark. Im Sommer ist ihr fröhliches Lachen den ganzen Tag über zu hören. Dass sich fünf Meter unter ihnen, bedeckt von einer dicken Schicht Sand, Geröll und Schutt, der alte jüdische Friedhof der Stadt befindet, wissen die Kinder nicht. Erwachsene stehen oft fassungslos vor den Informationstafeln: Unter dem Zentralpark liegt der »Rabbinische Friedhof« mit rund 5000 Gräbern und einer eigenen Abteilung für Rabbiner aus Bialystok und Umgebung.
zeitzeugen Tomasz Wisniewski hat seine Filmkamera immer dabei. Seit vielen Jahren erforscht der 55-Jährige die weitgehend vergessene jüdische Geschichte Bialystoks, findet Zeitzeugen in Israel, den USA und auch in Bialystok und den umliegenden Dörfern. Seine Bücher, mehr noch seine Dokumentarfilme, zeigen die Stadt wie in einem Zerrspiegel.
»Die Bialystoker wollen vergessen, dass die Stadt einst eine jüdische war. Im Zentrum wohnten zu 90 Prozent Juden. Christliche Polen waren in der Minderheit«, erläutert Wisniewski und richtet die Kamera auf das »Denkmal der Helden der Bialystoker Erde«. Die neun Betonstelen ragen 17 Meter hoch in den Himmel.
Ein gekrönter Adler aus Bronze sitzt ganz oben und breitet die Schwingen wie zum Abflug aus. »Vor ein paar Jahren brachten rechte Fanatiker die Worte ›Gott, Ehre, Vaterland‹ an den Stelen an. Illegal, versteht sich«, erklärt Wisniewski und filmt Touristen, die das Denkmal fotografieren.
schandmal »Der Stadtpräsident griff bis heute nicht ein, weil er es sich mit der katholischen Kirche nicht verderben will.« Inzwischen wüssten aber alle, dass an dieser Stelle der jüdische Friedhof beginnt. Sarkastisch-bitter setzt Wisniewski hinzu: »So steht nun das Ehrenmal für die Partisanen wie ein Schandmal auf dem alten jüdischen Friedhof der Stadt.«
Von 1954 bis 1956 war Michal Balasz Stadtarchitekt und Denkmalpfleger von Bialystok. »Es war meine Idee, den jüdischen Friedhof im Stadtzentrum mit Sand und Geröll aufzuschütten. Ich konnte ihn nicht anders schützen.« Mit zittriger Hand greift der heute über 90-Jährige nach einem Glas Wasser. »Die Stadt war fast vollständig zerstört. Die Trümmer mussten weggeschafft und neue Steine für den Wiederaufbau hereingebracht werden. Viele Bialystoker bedienten sich ungeniert an den jüdischen Grabsteinen und bauten sie in Häuser, Ställe und Scheunen ein.«
Mit der stillschweigenden Billigung des lokalen Parteikaders ließ er das gesamte Areal des Friedhofs – mehr als vier Hektar – mit Sand und Schutt fünf Meter hoch aufschütten und mit einem dichten Wald bepflanzen. »Damals dachte ich, dass man den Friedhof später wieder ausgraben könnte.« Er senkt den Blick, schweigt, fährt dann plötzlich hoch: »Jetzt ist der Moment gekommen. Jetzt sollte man den Friedhof wieder ausgraben.«
Katakomben Während Antoni Oleksicki, der Denkmalpfleger des Bezirks Podlachien, seinem Kollegen Michal Balasz zustimmt und die Räumung des Parks mit seinen hohen Bäumen, den Spielplätzen und dem großen Denkmal für möglich hält, um den Friedhof wieder auszugraben, schlägt der Bildhauer und Hochschullehrer Jerzy Grygorczuk eine andere Lösung vor: »Man kann den Park erhalten und den Friedhof unterirdisch zugänglich machen.«
Doch Polens Oberrabbiner Michael Schudrich winkt sofort ab: »Aus halachischen Gründen können wir keinen begehbaren Katakomben-Friedhof akzeptieren, der noch dazu unter Tonnen von Kriegsschutt liegen würde.« Allerdings verhielte sich die Sache schon anders, so Schudrich, wenn die Stadtverwaltung von Bialystok oder die Regierung in Warschau den Friedhof im Zentrum Bialystoks wieder freilegen wollten.
Danach allerdings sieht es zurzeit nicht aus. Die Oase der Ruhe und Erholung im Zentralpark ist den Bialystokern wichtiger als der rabbinische Friedhof unter ihren Füßen. Immerhin hat Wisniewskis Film Der Zentralpark die lokalen Politiker dazu gebracht, große Informationstafeln aufzustellen. Nach der Lektüre nimmt man das Kinderlachen anders wahr.