Dreißig Jahre sind seit dem blutigen Anschlag vor der römischen Synagoge vergangen, als arabische Attentäter nach der Sukkot-Feier Granaten in die Menge der Beter schleuderten. Noch drei Jahrzehnte später gehört die Synagoge zu den meistbewachten Gebäuden der Hauptstadt. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Riccardo Pacifici, steht seit mehreren Jahren unter Polizeischutz. Den Antisemitismus in Italien will er nicht verharmlosen, »doch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind wir eine Insel der Seligen. Angriffe auf Personen oder Synagogen gibt es seit Jahren nicht mehr«.
Der Antisemitismus äußert sich anderweitig: im Beschmieren jüdischer Geschäfte oder koscherer Restaurants, in rassistischen Parolen an Unterführungen oder Umgehungsstraßen. Nach einem Bericht des Parlaments sollen zwölf Prozent der Italiener antisemitisch sein, 44 Prozent haben Vorbehalte gegen Juden.
Zweifel Pacifici sieht diese Zahlen mit Skepsis: »Wir machen ganz andere Erfahrungen. In den Institutionen, Parteien, Schulen und Universitäten finden unsere Anliegen große Beachtung, und es besteht lebhaftes Interesse für Reisen nach Auschwitz, für Gespräche mit Überlebenden, Ausstellungen und Initiativen.« Die größte Gefahr sieht der Vorsitzende im Internet, wo die Zahl der antijüdischen und rassistischen Webseiten rapide zunehme. »In Italien ist die Schoa-Leugnung gesetzlich nicht verboten, nur die Anstiftung zum Rassenhass wird verfolgt. Der Polizei sind oft die Hände gebunden, weil diese Webseiten ihren Sitz häufig im Ausland haben«, erklärt Pacifici.
Rom, wo die Hälfte der rund 30.000 italienischen Juden lebt, gilt als Hauptstadt des Antisemitismus. Ein Eindruck, den Pacifici so nicht bestätigen will: »Ich halte es für bedrohlicher, wenn die ›Azione Skinheads‹ oder ähnliche Organisationen in Venetien rassistische Aktionen starten«, so der Vorsitzende im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Das ist militanter Antisemitismus in einer Region, in der fast keine Juden leben.«
Propaganda In Rom sind die Zentren antijüdischer Propaganda seit Jahren bekannt – etwa die »Casa Pound«, ein von rechten Aktivisten besetztes »Kulturzentrum« nahe des Bahnhofs Termini oder die Organisation »Militia«, deren führende Vertreter unlängst festgenommen wurden und die Pacifici »am liebsten zu einem Augenschein nach Auschwitz schicken würde, weil Gefängnis bei diesen Unverbesserlichen ohnehin nichts bewirkt«.
Zurzeit sorgt in den jüdischen Gemeinden Italiens ein Urteil für Diskussionen, mit dem der linke Politiker Peppino Caldarola wegen Verleumdung des ebenfalls linken Karikaturisten Vauro Senesi zu einer Wiedergutmachung von 25.000 Euro verurteilt wurde. Caldarola hatte dem Zeichner antijüdische Gesinnung unterstellt, weil er vor zwei Jahren in der kommunistischen Zeitung »Il manifesto« eine umstrittene Karikatur der rechten Abgeordneten Fiamma Nirenstein publiziert hatte. Darauf war die Parlamentarierin der Berlusconi-Partei PDL mit dem faschistischen Liktorenbündel und dem Davidstern zu sehen.
»Ich soll antisemitisch sein?«, erregte sich Senesi. »Ich habe erst kürzlich meine zehnjährige Tochter nach Jerusalem in die jüdische Gedenkstätte geführt.« Pacifici kann die Entscheidung des Gerichts nicht begreifen: »Ich war zur Verhandlung als Sachverständiger geladen und habe zu erklären versucht, dass die Karikatur genau den Stereotypen der nazistischen und kommunistischen Propaganda entspricht: Juden mit hässlichen Gesichtern, krummer Nase und bösartigem Ausdruck.«
Diese Meinung vertritt auch Peppino Caldarola, der Einspruch gegen das Urteil eingelegt hat. Die 25.000 Euro Bußgeld wollen die jüdischen Gemeinden Italiens aufbringen. »Wir haben die Summe schon fast beisammen. Jede Gemeinde steuert nach ihren Möglichkeiten bei«, so Riccardo Pacifici.
Stolpersteine Der Antisemitismus sorgt in Italien seit einigen Jahren kaum für größere Schlagzeilen. Seit rassistische Parolen und Transparente in den Fußballstadien verboten sind und die Klubs dafür bestraft werden, sorgen eher kleinere Episoden für Diskussionen – etwa die Beflissenheit eines Apothekers, der vor seinem römischen Mietshaus die Stolpersteine für zwei im KZ ermordete Schwestern entfernen ließ, weil er »sie als störend empfand und dieser Eindruck auch von Nachbarnn geteilt worden« sei.
»Das sind Formen von Anpassung und Konformismus, die uns oft mehr beunruhigen als militante Aktionen«, warnt Pacifici, dessen Großvater Rabbiner in Genua war und in Auschwitz ermordet wurde. »Es waren schon immer Gleichgültigkeit und Mitläufertum, die den Antisemitismus und seine Exzesse ermöglicht haben.«