USA

Scham und Stigma

Wenn Joel Dworkin in diesen Tagen Besucher in seinem Büro empfängt, bittet er um Entschuldigung für das vermeintliche Chaos. Mehrere Stapel Pappkartons rahmen die kleine Sitzecke ein. Aber Dworkin ist weder gerade eingezogen, noch zieht er in Kürze um. In den Pappkartons befinden sich mehrere Hundert Dosen Naloxon, ein schnell wirkendes Notfallmedikament, das bei einer Opioid-Überdosis zum Einsatz kommt. »Wir verteilen Naloxon und trainieren die Leute im sicheren Einsatz«, sagt Joel Dworkin.

Der 34-Jährige – schulterlange braune Locken, Vollbart und Holzfällerhemd – ist seit Sommer 2021 Programmmanager von HAMSA (Helping Atlantans Manage Substance Abuse). Die gemeinnützige jüdische Organisation in Atlanta widmet sich der Aufklärung über Alkohol- und Drogenabhängigkeit.

Bei vielen hält sich die Annahme, Sucht sei ausschließlich ein nichtjüdisches Problem.

Zwei Trends zeichnen sich ab, und sie manifestieren sich in der jüdischen Gemeinde ebenso wie in der Gesamtbevölkerung. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe seine Organisation deutlich mehr Anfragen zu Alkoholmissbrauch bekommen, sagt Dworkin. »Alkohol ist leicht verfügbar, und wer schon vorher getrunken hat, hatte jetzt eine Entschuldigung, sehr viel mehr zu trinken.« Das entspricht dem nationalen Trend: So starben nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC 2020 in den USA 26 Prozent mehr Menschen an den Folgen von Alkoholmissbrauch als im Jahr zuvor.

rekord Vor allem aber hat die Opioid-Krise einen neuen, traurigen Rekord erreicht – der rapide Anstieg der Zahl von Drogenabhängigen und Todesfällen infolge des Missbrauchs von Substanzen mit morphinartiger Wirkung, darunter zahlreiche Schmerzmittel. 2021 starben fast 81.000 Menschen an einer Opioid-Überdosis, heißt es in einem Bericht der CDC. Seit 1999 sind in den Vereinigten Staaten knapp eine Million Menschen dieser Epidemie zum Opfer gefallen, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Die Krise hat eine dritte Runde erreicht – auf diverse Schmerzmittel wie OxyContin folgte Heroin, und mittlerweile wird die Epidemie vor allem von Fentanyl getrieben, einem synthetischen Opioid, das 50- bis 100-mal stärker wirkt als Heroin, das billig in Hinterzimmerlaboren insbesondere in China produziert, häufig in sozialen Medien gehandelt und auf dem Postweg versendet wird. Eine winzige Dosis kann bereits tödlich sein.

Wie sehr Fentanyl derzeit die Drogenlandschaft in den USA dominiert – auch in der jüdischen Welt –, zeige allein die Budgetverteilung in seiner Organisation, sagt Dworkin. Normalerweise gebe HAMSA jährlich rund 10.000 Dollar für Aufklärungsveranstaltungen aus. »Mittlerweile fließt fast all unser Geld in den Kauf und die Verteilung von Naloxon-Spritzen und -Nasensprays.«

EPIDEMIE Gesundheitsexperten und Anti-Drogen-Aktivisten betonen, die jüdische Community sei nicht stärker oder schwächer von der Opioid-Epidemie betroffen als jede andere Gruppe, und offizielle Quellen wie die CDC erheben keine Daten, die nach Religionszugehörigkeit unterscheiden. Das Mantra in der aktuellen Debatte ist stets das gleiche: Die Opioid-Epidemie diskriminiert nicht – jeder kann abhängig werden: ob arm oder reich, alt oder jung, schwarz oder weiß, christlich, jüdisch oder muslimisch, religiös oder atheistisch, aus behüteten oder vernachlässigten Familien.

Dworkin zitiert das Beispiel des 16-jährigen Samuel Berman Chapman, der im vergangenen Jahr in Kalifornien nach einer Überdosis Fentanyl starb. Der Teenager, Sohn einer jüdischen Psychotherapeutin, hatte sich über den Instant-Messaging-Dienst Snapchat Xanax besorgt, ein rezeptpflichtiges Mittel gegen Angststörungen und Panikattacken. Die Tabletten waren mit dem synthetischen Opioid versetzt.

Dworkins Frau, eine Rabbinerin, hatte Samuel drei Jahre zuvor in Chicago auf seine Barmizwa vorbereitet. Die Geschichte des Jungen verstöre ihn immer wieder, sagt Dworkin – vielleicht auch, weil sie seiner eigenen ähnelt. »Auch Samuel war ein ganz normaler jüdischer Junge.«

Dworkin, der in stabilen bürgerlichen Verhältnissen in New Jersey aufwuchs, begann im Alter von 14 Jahren, mit seinen Kumpels Marihuana zu rauchen, nahm später immer häufiger das opioidhaltige Schmerzmittel OxyContin und experimentierte dann mit Heroin. Als er 20 war, machte er einen Entzug. Seither ist er clean und teilt seine Erfahrungen mit anderen Betroffenen.

HÜRDEN Auch wenn Suchterkrankungen Juden und Nichtjuden gleichermaßen treffen, so gibt es doch spezifische kulturelle Herausforderungen und Hürden. Die größten davon sind Scham und Stigma – vor allem jene Variante, die im Jiddischen »A Shande fur die Gojim« heißt –, die ein schlechtes Licht auf die jüdische Gemeinschaft werfen, zum Beispiel durch Alkohol- und Drogenabhängigkeit.

Aber auch innerhalb der oft eng verknüpften jüdischen Gemeinden, teilweise gar innerhalb von Familien, sei das Thema Sucht häufig ein Tabu, sagt Harriet Rossetto. Die ehemalige Sozialarbeiterin hat vor 35 Jahren in Los Angeles »Beit T’Shuvah« gegründet, eines der wenigen stationären Therapiezentren für Suchtkranke in den USA mit einer gezielt jüdischen Ausrichtung. »Sucht war und ist unter Juden noch immer mit Scham und Stigma behaftet«, sagt Rossetto, auch wenn sich die Wahrnehmung langsam ändere.

Die jüdische Kultur sei traditionell auf Leistung, Stärke und Erfolg getrimmt. Entgegen den Daten, die das Gegenteil belegten, halte sich bei vielen amerikanischen Juden bis heute die Annahme, dass Sucht nur die anderen treffe, sagt Rossetto und führt als Beweis einen alten jiddischen Reim an, der betrunkene Nichtjuden verspottet: »Oj oj oj, schicker ist der Goj.«

suchtkliniken Neben Beit T’Shuvah gibt es in den Vereinigten Staaten nur eine Handvoll Suchtkliniken, die sich an jüdische Patienten richten: Einige Chabad-Häuser, vor allem in Kalifornien, bieten Entzugsprogramme an, ebenso wie »Recovery at the Crossroads«, eine stationäre Einrichtung in New Jersey.

Eine weitere kulturelle Hürde für viele jüdische Amerikaner ist die Tatsache, dass das am weitesten verbreitete Modell zur Behandlung von Suchterkrankungen in den USA das sogenannte Zwölf-Schritte-Programm ist, ein Konzept der Anonymen Alkoholiker (AA). Es basiert auf dem Text des sogenannten »Big Book« oder des »Blauen Buches«.

Kritiker weisen darauf hin, dass das Programm mit seinem spirituellen Überbau einer religiösen – und insbesondere christlichen – Konversion ähnele. Tatsächlich hat es seine Wurzeln im Protestantismus, doch es definiert sich, zumindest formal, als überkonfessionell, spricht stets von »einer Macht, die größer ist als man selbst«, und von »Gott, wie jeder ihn für sich versteht«.

zwölf-schritte-programm Auch Joel Dworkin, der sich dem Reformjudentum zugehörig fühlt, durchlief als junger Mann das Zwölf-Schritte-Programm. »Keine Frage, das Modell entspringt einer christlichen Pädagogik«, sagt er. Die Haltung – »da gibt es ein Buch, und dieses Buch liefert die Antwort, und wenn ich jedem Schritt in diesem Buch folge, werde ich frei sein von den Ketten der Alkohol- und Drogensucht« – sei Juden eher fremd. »Unsere Tradition hingegen ist vielmehr zu analysieren, zu hinterfragen, über verschiedene Auslegungen zu debattieren.«

Auf der anderen Seite will er die Klage vieler jüdischer Anti-Drogen-Aktivisten nicht gelten lassen, es gebe keine oder zu wenige jüdische AA- und NA-Gruppen (Narcotics Anonymous, Anonyme Drogenabhängige).
Tatsächlich finden viele Treffen von AA- und NA-Selbsthilfegruppen in den Räumen von Kirchen statt.

Jüdische Gemeinden hingegen hätten häufig Bedenken, ihre Tore für Treffen ehemaliger Suchtkranker zu öffnen – aus Sicherheitsgründen. »Das ist die Reaktion einer traumatisierten Bevölkerung, die alles, was von außen kommt, als potenzielle Bedrohung empfindet«, sagt Dworkin. Das sei zwar verständlich, aber keine hinreichende Begründung.

TOOLKIT Er selbst habe aus seiner Erfahrung mit dem Zwölf-Schritte-Programm eine Art »spirituelles Toolkit« mitgenommen, sagt Dworkin. Heute organisiert er eine AA-Gruppe in einer konservativen Synagoge, in der seine Frau Rabbinerin ist – Or Hadash in Atlanta. Die Treffen finden jeweils am Mittwochabend statt; die Gruppe heißt »Oy Yeh«. Es ist ein offizielles AA-Treffen und offen für jeden, »aber die Regeln sind etwas lockerer«, sagt Dworkin.

Auch »Beit T’Shuvah« in Kalifornien arbeitet auf Basis des Zwölf-Schritte-Programms. Das Modell lasse sich mit leichten Abänderungen durchaus »auf jüdisches Denken und jüdische Werte übertragen«, sagt Rossetto. Als Beispiel nennt sie jene Schritte, in denen es um eine gründliche Selbstinventur geht, um Abbitte gegenüber all jenen, denen der Suchtkranke Leid und Schaden zugefügt hat – und darum, sich bei diesem Prozess einer höheren Macht anzuvertrauen. »Das ist genau das, was wir Juden als Teschuwa bezeichnen, als Buße und Rückkehr zu einem Leben mit Gott«, sagt Rossetto.

Joel Dworkin organisiert in seiner Rolle als HAMSA-Manager auch »jüdisches Sensibilisierungstraining« für nichtjüdische Therapieeinrichtungen. Er und seine Kollegen schulen Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter im Umgang mit jüdischen Patienten. Da sind zum Beispiel die jüdischen Feiertage, Purim, Pessach oder Sukkot. Da wird reichlich getrunken, zum Teil ist der Konsum von Alkohol sogar vorgeschrieben – eine therapeutische Vorbereitung und Begleitung für jüdische Suchtkranke rund um die Feiertage ist daher besonders wichtig.

Als 20-Jähriger machte Joel Dworkin einen Entzug und hilft seitdem
anderen Betroffenen.

Bei allen kulturellen und praktischen Hürden und Herausforderungen bietet das Judentum aber auch ganz eigene Chancen für einen erfolgreichen Entzug und eine Rehabilitation nach der Sucht. »Vor allem unser Sinn für Gemeinschaft sowie der soziale und spirituelle Auftrag, sich füreinander verantwortlich zu fühlen«, betont Dworkin. Er selbst habe auf seinem Weg aus der Drogenabhängigkeit davon profitiert, sagt er. Vor allem erinnert er sich an die Hebräisch-Schule in New Jersey, deren Direktor ihm stets Mut gemacht habe.

netzwerk Außerdem erinnert er sich an den Leiter von »Ramah in the Rockies« in Denver, Colorado. Camp Ramah ist ein Netzwerk von Sommercamps, das mit dem konservativen Judentum in den USA verbunden ist. Dworkin bewarb sich dort als Sozialarbeiter – und wurde mit offenen Armen empfangen, trotz oder gerade wegen seiner Erfahrung als ehemaliger Drogenabhängiger. Später war er an der Gründung von »BaMidbar Wilderness Therapy« in Colorado beteiligt, dem einzigen Wildnistherapie-Programm in den USA für jüdische Teenager und junge Erwachsene.

Dworkin ist dankbar, dass er mit seiner persönlichen Geschichte dazu beitragen kann, über Alkohol- und Drogenabhängigkeit aufzuklären, das Stigma zu überwinden und Wege aus der Sucht aufzuzeigen – durch die jüdische Linse und mit vielen Pappkartons voller Naloxon.

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