USA

Scham und Schande

Armut hat es in jüdischen Gemeinden schon immer gegeben, doch in den vergangenen Jahren ist sie vielfältiger und komplexer geworden. Foto: imago/ZUMA Press

Als Leah (Name geändert) krank wurde, begann auch der Rest ihres Lebens auseinanderzufallen. Ihre Versicherung zahlte nur einen kleinen Teil ihrer Brustkrebsbehandlung. Sie geriet mit der Miete in Rückstand. Ihr Job als Hebräischlehrerin im örtlichen Chabad-Haus brachte nicht viel ein. Zwar zahlte der Vater ihrer drei Kinder – zwei Teenager-Jungs und eine siebenjährige Tochter – bescheidenen Unterhalt, doch die Kosten für Essen, Kleidung und Transport häuften sich.

Leah lebte in Atlanta, aber ihre Geschichte könnte überall in den USA spielen. Armut in jüdischen Gemeinden ist ein ebenso drängendes wie verborgenes Problem. Eine Studie der Harry and Jeanette Weinberg Foundation kommt zu dem Ergebnis: 16 bis 20 Prozent der Juden in den USA leben unterhalb der Armutsgrenze, sieben Prozent aller jüdischen Haushalte haben ein Jahreseinkommen von weniger als 15.000 Dollar.

Besonders konzentriert ist die Armut unter Juden in New York und Umgebung. Zum Vergleich: Laut einer Statistik des US-Zensusbüros lag die durchschnittliche Armutsrate in den USA im Jahr 2018 bei 11,8 Prozent.

Besonders konzentriert ist die Armut unter Juden in New York und Umgebung.

Selbstverständlich habe es immer schon Armut in jüdischen Gemeinden gegeben, sagt Reuben Rotman, Leiter des Network of Jewish Human Service Agencies, einem Non-Profit-Netzwerk jüdischer Hilfsorganisationen in den USA und Kanada. »Aber das Gesicht der Armut ist vielfältiger und sehr viel komplexer geworden.«

arbeitslosigkeit Betroffen sind die verschiedensten Gruppen innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Allesamt Menschen, die durch das ohnehin grob geknüpfte Netz des amerikanischen Sozialversicherungssystems gefallen sind. Menschen, die ihre Arbeit verloren haben. Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten. Ältere Menschen, die eine geringe Rente beziehen und zunehmend pflegebedürftig werden. Alleinerziehende Eltern wie Leah.

Das sind Gruppen, die auch in der allgemeinen Bevölkerung gefährdet seien und besonders häufig in den Teufelskreis der Armut gerieten, sagt Rotman. Doch darüber hinaus gebe es »ein spezifisch jüdisches Gesicht der Armut«. Da sind vor allem Holocaust-Überlebende. Schätzungen zufolge lebt ein Drittel der etwa 100.000 Holocaust-Überlebenden in Nordamerika in Armut, und das Geld, das die Claims Conference und andere Hilfsorganisationen bereitstellen, reicht oft nicht, um die steigenden Gesundheits- und Pflegekosten zu decken.

Eine weitere Gruppe sind eingewanderte Juden, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion. »Für sie ist es schwer, Arbeit zu finden, sie kämpfen mit der Sprache und verlieren sich häufig im Gestrüpp der Bürokratie«, sagt Rotman.

orthodoxie Schließlich sind es orthodoxe und ultraorthodoxe Juden, die das Gesicht jüdischer Armut in Amerika prägen. Zwar lebt nur etwa ein Drittel der streng orthodoxen Juden in den USA in Armut, aber mit ihrer auffälligen Kleidung, den großen Familien und den strikten religiösen Ritualen seien sie in der öffentlichen Wahrnehmung zum »Codewort für Armut« geworden, schreibt Jane Eisner, langjährige Chefredakteurin des jüdischen Magazins »Forward« und Journalismus-Professorin an der renommierten Wesleyan University im US-Bundesstaat Connecticut.

16 bis 20 Prozent der Juden in den USA leben unterhalb der Armutsgrenze.

Tatsächlich gibt es in vielen Charedi-Gemeinden kaum eine säkulare Schulbildung, sodass die Männer häufig nur schwer Arbeit finden und allenfalls für einfache Aushilfsjobs qualifiziert sind. Hinzu komme, »dass einige Mitglieder der orthodoxen Gemeinden sich bewusst entscheiden, religiösen Studien statt einer Arbeit nachzugehen«, sagt Rotman. »Und das ist dann schon ein Problem« – vor allem für die Familien.

Doch gesprochen wird darüber nicht. Armut ist seit jeher ein absolutes Tabuthema in jüdischen Gemeinden, von ultraorthodox bis säkular, belegt mit Stereotypen und begleitet von einem Gefühl der Scham und Schande.

bildungsniveau Einer der Gründe: »Armut steht dem gängigen Narrativ entgegen, nämlich dass die Geschichte der Juden in den USA die ultimative amerikanische Erfolgsgeschichte ist«, schreibt Jane Eisner. Ein Narrativ, das viele amerikanische Juden selbst mit Sorgfalt pflegen und bereitwillig verbreiten. Und tatsächlich gehören Juden statistisch zu denjenigen Minderheiten in den USA mit dem höchsten Bildungsniveau und dem größten Wohlstand.

Auch aus diesem Grund sei das Thema Armut in den jüdischen Gemeinden der USA »mit einem enormen Stigma behaftet«, sagt Rotman – ein Stigma, »das tiefer greift und akzentuierter ist als unter nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen«.

Jüdische Gemeinschaften bildeten in der Regel ein sehr enges Netzwerk – »da sind die Synagogen, die Kindergärten, die Schulen, die Camps und die Gemeindezentren«, erläutert Rotman. Ein Netzwerk der gegenseitigen Hilfe, aber auch der Beobachtung und Kontrolle.

Das Thema Armut ist in den jüdischen Gemeinden der USA »mit einem enormen Stigma behaftet«.

»Das führt bei vielen Mitgliedern zu sehr hohem Druck«, sagt Rotman. Hinzu komme, dass viele Juden sich besonders schwer damit tun, öffentliche Hilfe zu beantragen, seien es Wohlfahrtsprogramme für Frauen und Kinder, Lebensmittelkarten oder staatliche Wohnungsbeihilfen.

Krankenversicherung Leah nahm ei­nige dieser sozialen Leistungen in Anspruch, für ihre Kinder, nicht für sich. Zum Beispiel eine staatliche Krankenversicherung für Kinder bedürftiger Familien oder Beihilfen für den Schulbedarf. Doch sonst klagte sie nie, im Gegenteil, sie färbte sich grüne Strähnen in ihr dunkles Haar, gründete mit Freunden eine Theatergruppe für improvisierten Ausdruckstanz und verdiente sich ein paar Dollar als Synchronsprecherin fürs Radio und als Privatlehrerin für Hebräisch dazu.

Leahs Haltung ist durchaus typisch für bedürftige Mitglieder der jüdischen Gemeinde, bestätigt Jean Millkey von Jewish Family & Career Services (JF&CS), einer Hilfsorganisation in Atlanta, die zu einem Großteil von den Jewish Federations of North America finanziert wird. »Stolz, Scham und ein großes Bedürfnis nach Diskretion« – das sehe sie häufig bei den Menschen, die die Leistungen von JF&CS in Anspruch nehmen.

Zu den Diensten, die auch Nichtjuden offenstehen, gehören Psychotherapie und Suchtberatung, Programme für alleinstehende Mütter und Opfer sexuellen Missbrauchs. Sozialarbeiter helfen alten Menschen und ihren Angehörigen bei der Organisation der ambulanten Pflege. JF&CS bietet Fahrdienste zu Ärzten, Krankengymnastik und anderen Terminen an. Eine spezielle Tageseinrichtung für Menschen mit Behinderungen hat Yoga-, Koch- und Gärtnerkurse sowie Musik- und Bewegungstherapie im Programm. JF&CS betreibt eine Zahnklinik, in der Ärzte Patienten kostenlos behandeln.

anstellung Die Organisation hilft ferner Langzeitarbeitslosen, älteren Arbeitssuchenden und ungelernten Arbeitskräften, eine Anstellung zu finden. Außerdem unterhält JF&CS eine große Speisekammer mit koscheren Nahrungsmitteln, die Supermärkte der Umgebung, Synagogen, Gemeindezentren und Privatpersonen spenden.

In den vergangenen fünf, sechs Jahren sei die Nachfrage nach den Lebensmitteln aus der Speisekammer deutlich angestiegen, sagt Millkey. »Sei es, weil sich unser Angebot herumgesprochen hat, oder weil die Bedürftigkeit angestiegen ist.«

In den vergangenen Jahren ist die Nachfrage nach Lebensmitteln aus der Speisekammer deutlich angestiegen.

Die Organisation führt in ihrer Datenbank die Empfänger der Leistungen nicht mit ihren Namen, sondern mit den letzten Ziffern ihrer Sozialversicherungsnummer. Auch beantwortete JF&CS die Anfrage, für diesen Artikel eine Sozialarbeiterin oder einen Sozialarbeiter in ihrem Alltag zu begleiten, aus Rücksicht auf die bedürftigen Menschen abschlägig.

hilfsorganisation Die Hilfsorganisation Yad L’Yad in Atlanta, die Lebensmittel ausschließlich an Mitglieder der orthodoxen Gemeinschaft in Atlanta verteilt, lehnte es grundsätzlich ab, über ihre Arbeit zu sprechen – und verwies auf »die Würde und die Privatsphäre unserer Empfänger«.

Informationen aus dem Umfeld von Yad L’Yad zufolge kennen die Mitarbeiter der Organisationen häufig weder Namen noch Gesichter der Empfänger ihrer Lebensmittel. Manchmal holen die bedürftigen Familien die Lebensmittel im Schutz der Dunkelheit an einem zuvor vereinbarten geheimen Ort ab.

Das Stigma lebt, und es schreibt sich fort, jeden Tag, überall in den USA. Reuben Rotman will das ändern – »und zwar mit einer Vielzahl von kreativen und innovativen Lösungen«, sagt er. Im Frühjahr veranstaltete die Weinberg-Stiftung eine Konferenz zum Thema »Jüdische Armut in San Francisco«, an der Hilfsorganisationen aus den USA und Kanada teilnahmen. Herausgekommen sind zahlreiche Konzepte und Pilotprojekte, mit denen verschiedene jüdische Organisationen in den USA die Armut – und das Stigma der Armut – bekämpfen wollen.

Miete Zu den Projekten zählen eine Kooperation zwischen Autohäusern, die in jüdischem Besitz sind, und jüdischen Gemeinden sowie ein Wohnungs-Treuhandfonds, der von jüdischen Gemeinden verwaltet wird und Mitgliedern hilft, die mit ihren Mietzahlungen in Rückstand geraten sind.

Die jüdische Gemeinde von Philadelphia startete ein Peer-Mentoring-Programm, »bei dem Menschen, die in der Vergangenheit mit finanziellen Problemen gekämpft und diese erfolgreich überwunden haben, anderen bei der Haushaltsführung und beim Abbau ihrer Schulden helfen«, sagt Rotman. Die jüdische Gemeinde von Columbus im Bundesstaat Ohio erprobt derzeit den gezielten Einsatz von Technologien wie Smartphone-Apps, die die Suche nach Arbeit, sozialen Diensten und Wohnraum erleichtern sollen. Die jüdische Gemeinde von Detroit plant die Einrichtung eines Wohnzentrums für Familien, in dem auch Menschen, deren Zuhause zwangsgeräumt wurde, eine Zuflucht finden.

Armut steht im Widerspruch zur amerikanischen Erfolgsgeschichte.

Die Pilotprojekte werden von verschiedenen Stiftungen finanziell unterstützt. Rotman ist zuversichtlich, dass die Initiativen, die bislang nur punktuell und vereinzelt wirken können, in einigen Jahren auf alle Regionen des Landes übergreifen und dabei helfen, die Armut unter amerikanischen Juden wirkungsvoll zu bekämpfen.

Leah aus Atlanta wird von den Initiativen nicht mehr profitieren. Vor drei Jahren reiste sie mit ihren Kindern in den Urlaub nach Israel und kehrte nicht mehr zurück. Die Familie zog in einen Kibbuz im Norden des Landes, nahe Haifa. Dort starb Leah im vergangenen Jahr. Der Krebs war zu weit fortgeschritten, um noch heilbar zu sein. Ihre Kinder leben noch immer im Kibbuz und wollen nicht mehr in die USA zurückkehren.

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