Es war der letzte Schabbat in Ningbo. Wie jede Woche hatte Rabbiner Yekutiel Kalmenson ins Gemeindezentrum eingeladen. Doch vergangenen Freitagabend kam kein Minjan mehr zustande. Gerade einmal sechs Gäste trafen ein, um mit dem Rabbiner, seiner Frau und den drei Kindern den Schabbat zu begrüßen.
Alle kamen mit Masken. Nachdem sie eingetreten waren, wuschen sie ihre Hände und wechselten die Kleidung. Das Coronavirus und die Angst davor hat Ningbo und ganz China fest im Griff.
Indes breitet sich das Coronavirus immer weiter aus.
Knapp 50 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde der Achtmillionenstadt am Ostchinesischen Meer. Doch in Zeiten des Coronavirus schrumpft sie jeden Tag. Erst am Freitagmorgen sandte eine Familie dem Rabbi eine Textnachricht. Sie könnten nicht mehr zu Kabbalat Schabbat kommen, schrieben sie, sie hätten Tickets gekauft und seien bereits auf dem Weg ins Ausland.
Expats Die jüdische Gemeinschaft in China besteht aus Expats – Menschen, die für längere Zeit aus beruflichen Gründen im Ausland leben. Chinesen gebe es keine in der Gemeinde, sagt Rabbi Kalmenson. »Wir haben eine Übereinkunft mit der chinesischen Regierung, dass wir uns nur an Leute wenden, die einen ausländischen Pass haben.«
Das Judentum gehört in China nicht zu den offiziell anerkannten Religionen. Doch solange es nicht auffällt, ist jüdisches Leben möglich.
Im Gemeindezentrum in der Qianhu-Bei-Straße fällt es nicht auf. Wie in etliche andere chinesische Großstädte hat die chassidische Bewegung Chabad Lubawitsch auch nach Ningbo einen sogenannten Schaliach entsandt: Rabbi Kalmenson. Er bietet religiöse Dienste an und sorgt für die Juden vor Ort. In Zeiten des Coronavirus geschieht dies auch in Form von Tausenden Masken, die er und seine Mitarbeiter im Rahmen eines Hilfsfonds verteilen.
Als nach Ende des Schabbats die letzte jüdische Familie Ningbo verlassen hat, setzt sich am Sonntag auch Kalmenson mit seiner Frau und seinen Kindern ins Flugzeug und kehrt zurück nach New York. »Solange die örtliche Gemeinde in Ningbo bleibt, wollten auch wir bleiben«, sagt er. »Doch da jetzt eigentlich keine Juden mehr in der Stadt leben, haben wir dort zurzeit keine Aufgabe mehr.« Wegen des Virus sei auch nicht davon auszugehen, dass in den nächsten zwei Monaten wieder Geschäftsreisende aus dem Ausland nach China kommen werden, erklärt Kalmenson.
Infektionsschutz Zwei Juden allerdings sind weiterhin in der Stadt. »Sie wollen in Ningbo bleiben«, sagt der Rabbi. Sie hätten keine Familie, auch nicht im Ausland. Sie seien der Ansicht, es sei ein besserer Infektionsschutz, zu Hause in der Wohnung zu bleiben als in ein Flugzeug zu steigen und zehn bis zwölf Stunden auf engstem Raum mit vielen Menschen zusammen zu sein, von denen man nicht wisse, wo sie zuletzt gewesen sind. »Letztendlich muss jeder selbst einschätzen, ob er gehen oder bleiben will«, sagt der Rabbiner. »Wir haben diesen Menschen viele, viele Masken dagelassen, und den Rest an Bekannte verteilt und an die Chinesen, die für uns arbeiten.«
Indes breitet sich das Coronavirus immer weiter aus. Inzwischen sind mehr als 17.000 Menschen infiziert, die Zahl der Todesopfer stieg bis Montag auf 361 Menschen. Dass bisher Juden angesteckt worden seien, ist Kalmenson nicht bekannt.
Wuhan Vergangene Woche, als die Stadt Wuhan unter Quarantäne gestellt worden und damit praktisch geschlossen war, bat eine amerikanisch-jüdische Frau Chabad um Hilfe. Sie und ihre Tochter hatten keine Möglichkeit mehr, aus der Stadt herauszukommen. Mit großer Anstrengung gelang es dem Chabad-Rabbiner in Peking, Shimon Freundlich, für die beiden zwei Plätze in einer amerikanischen Militärmaschine zu bekommen, die Diplomaten und andere Regierungsmitarbeiter aus Wuhan ausflog.
Shalom Greenberg, der Chabad-Rabbiner von Shanghai, übergab am Montag dem dortigen Jüdischen Flüchtlingsmuseum 10.000 Masken. Sie sollen an die ältere chinesische Bevölkerung im Stadtbezirk Hongkou verteilt werden, eine Gegend, die im Zweiten Weltkrieg als »Jüdisches Ghetto« bekannt war. Zehntausende Juden aus Europa fanden ab 1938 Zuflucht in Shanghai und überlebten so die Schoa.
»Wir fühlen uns geehrt, wundervollen Menschen helfen zu können, die unseren Vorfahren in einer Zeit großer Not geholfen haben«, sagte Greenberg.