Ein hellblauer Altbau unter grauem Himmel im Herzen von Islands Hauptstadt Reykjavik. Während es draußen nieselt und der Wind pfeift, ist drinnen die Stimmung herzlich und warm. Ob in Hemd oder Jogginghose, ob Sefarde oder Aschkenase – alle sind willkommen.
Zu zweit oder zu dritt sitzen sie auf Sofas und in Stuhlgruppen und plaudern. Man hört Isländisch, Hebräisch und Englisch mit unterschiedlichen Akzenten. Immer wieder öffnet sich die Tür, und ein neuer Gast wird freudig begrüßt. Kinder wuseln zwischen den sitzenden Erwachsenen und denen, die lässig an der Kochzeile lehnen.
Neben mitgebrachten Kuchen und Süßteilchen steht Karen, eine Frau Anfang 30. Sie wurde in Israel geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Jugend in den USA. Auf Hebräisch unterhält sie sich angeregt mit Mushky Feldman, der Frau des örtlichen Rabbiners und Mitbegründerin des neuen, von Chabad auf die Beine gestellten »Jewish Center of Iceland«.
Synagoge Nachdem sie schon zwei Jahre besteht, bekommt die nördlichste jüdische Gemeinde Europas nun endlich auch ein Gemeindezentrum.
Nachdem sie schon zwei Jahre besteht, bekommt die nördlichste jüdische Gemeinde Europas nun endlich auch ein Gemeindezentrum.
Momentan ist der Altbau das Wohnhaus der Feldmans, doch bald werden Synagoge und Gemeinschaftsräume hier zusätzlich Platz finden. Rebbetzin Mushky Feldman träumt von einer jüdischen Kindertagesstätte – Gottesdienste, Kidduschim, spielende Kinder und Chanukkafeiern, alles unter einem Dach.
Genauso hatten sie und ihr Mann, Rabbiner Avraham, genannt Avi, Feldman, es sich erträumt, als sie 2017 ihre Koffer packten, um ein neues Kapitel jüdischer Geschichte auf Island zu beginnen.
umzug Zwei Jahre hatte die damals fünfköpfige Familie in Berlin gelebt, dann zog es sie auf die Insel. Die Idee zu einem Umzug in den fernen Norden gab es schon länger. Mushky Feldman stammt aus Göteborg, wo ihre Eltern in den 90er-Jahren das erste Chabad-Zentrum Skandinaviens eröffneten.
Durch diese persönliche Verbindung erschienen sie als besonders geeignet, ein Gemeindezentrum auf Island aufzubauen.
Zur Feier des Tages gibt es koscheren Wein. Noch kann man ihn nirgendwo in Reykjavik kaufen, doch eine Freiwillige hat es geschafft, den guten Tropfen aufzutreiben.
Dieser besondere Einsatz ist kein Einzelfall. Karen betont, dass alle mithelfen, wo sie können. »Wir sind ja nicht viele. Und dass der Aufwand betrieben wurde, um diesen Raum zu schaffen, dafür ist jeder dankbar.« Sie selbst organisiert regelmäßig »Women’s Nights« und hofft, in Zukunft auch Kabbalakurse anbieten zu können.
Toraschrein Den mobilen Toraschrein hat Mike gebaut. Er ist Ende 50 und stammt, wie Karen, aus den Vereinigten Staaten. Einige Tage nach dem Treffen im Gemeindezentrum sitzt der studierte Musiker bequem in einem Sessel im IKEA-Bistro. Ein gelbes Sperrband verbietet den Zutritt zu den Tischen, nur die Essensausgabe und eine Sofaecke sind geöffnet.
Die Corona-Auflagen sind in Island vergleichsweise entspannt – Zusammenkünfte von bis zu 20 Personen waren zu jedem Zeitpunkt erlaubt, mittlerweile sind sogar bis zu 50 Personen gestattet; Restaurants und Geschäfte blieben eingeschränkt geöffnet –, und das Möbelhaus ist an diesem Tag voll.
Der isländische Staat will das Judentum demnächst offiziell anerkennen.
Zu Hamsterkäufen jedweder Art kam es in Island jedoch zu keinem Zeitpunkt. Viele Tests, auch an Menschen ohne Symptomen, lockere Maßnahmen und tägliche Updates der Regierung zeigen ihre Wirkung. Die Corona-Strategie ist offenbar effektiv, denn seit Ende April gibt es nur noch vereinzelt Neuinfektionen.
In der jüdischen Gemeinde wurden Toraunterricht und Challa-Backen in den akuten Covid-Zeiten für einige Wochen ins Internet verlegt. Auch von einer provisorischen Barmizwa erzählt Mike.
Die Liebe hat den Amerikaner einst auf die Insel verschlagen. Schon seit den 80er-Jahren ist er beständig dabei, die winzige jüdische Gemeinde des Landes zu den Feiertagen zusammenzutrommeln. In dieser Zeit hat er auch so manches über die jüdische Geschichte erfahren. »Schon während des Krieges trafen einige Juden in Island ein, aber sie versammelten sich nicht und lebten ihr Judentum kaum. Das änderte sich erst, als wir kamen.«
Geschichte Die jüdische Geschichte auf Island ist kurz. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts siedelten zwar immer wieder einzelne Juden in Richtung nördlicher Polarkreis, doch jüdisches Leben gab es nicht.
Einer Handvoll deutscher Juden gelang die Flucht nach Island. In einem Bericht des »Hilfsvereins der Juden in Deutschland« von 1939 wird die Massenemigration nach Island für unmöglich befunden, nachdem die örtlichen Behörden bereits ein Jahr zuvor ebenso wie Dänemark österreichischen Juden die Einreise verweigert hatten. Ein Zeitzeuge berichtet davon, dass es in Teilen der isländischen Bevölkerung die Tendenz gab, mit Nazi-Deutschland zu sympathisieren.
Erst mit der Ankunft britischer und amerikanischer Soldaten 1940 entstanden zwei temporäre Synagogen. »Vielleicht hätten wir es schleifen lassen sollen wie die vor uns. Aber wir waren zu stur«, reflektiert Mike lachend. Dazu kamen seine Kinder, denen er eine jüdische Kindheit ermöglichen wollte. Ihre jüdische Identität auf Island zu entfalten, war eine Herausforderung, findet Mike.
zufall Reykjaviks Gemeinde ist eine internationale Gemeinschaft, Anlaufstelle für alle auf der Atlantikinsel sesshaft gewordenen Juden. Oft haben die Liebe oder geschäftliche Gründe sie hierher verschlagen, manchmal der blanke Zufall.
Immer wieder tauchten neue Menschen auf, berichtet Mike. Zunächst traf man sich zu Potlucks, einem Buffet, zu dem jeder etwas beisteuert. Treffen wurden über Telefonketten organisiert, Reisende stießen auf die damals kaum öffentlich auftretende Gemeinschaft nur mit der Hilfe wissender Hotelportiers. An Feiertagen wurden für 25 bis 30 Gäste Konferenzräume gemietet, und statt aus der Torarolle wurde aus einer gedruckten Toraausgabe gelesen.
Heute sieht das anders aus. Informelle, potenziell unkoschere Buffets gibt es mit Chabad nicht. »Manche vermissen unsere Potlucks. Und manchen ist Chabad zu extrem, sie haben sich zurückgezogen«, gesteht Mike.
Er hingegen ist dankbar für das Engagement der Feldmans. Früher hätte ein Seder mit fast 200 Gästen, wie er im vergangenen Jahr stattfand, die wenigen Ehrenamtlichen mit ihren Kapazitäten überfordert.
Im Februar wurde die Gemeinde ungemein bereichert: Ein eingeflogener Sofer vervollständigte die erste Torarolle Islands, gespendet von einem Schweizer Ehepaar.
Im Februar wurde die Gemeinde ungemein bereichert: Ein eingeflogener Sofer vervollständigte die erste Torarolle Islands, gespendet von einem Schweizer Ehepaar. »Jedem von uns wurde ein Wort gewidmet«, schwärmt Karen und erzählt, wie sie mit der Torarolle durch die Straßen zogen.
Geografie Auch die Nähe zum nördlichen Polarkreis hält die auf Island lebenden Juden auf Trab. Die geografische Lage birgt extreme Schwankungen im Verhältnis von Tag und Nacht. Winter heißt auf Island vier bis fünf Stunden Tageslicht, und jetzt im Juni ist es 21 Stunden hell.
An der Zeit der Dämmerung orientiert, schwankt damit auch der Schabbatbeginn viel extremer als in Mitteleuropa. Wer im Dezember Kerzen zünden möchte, muss um 15 Uhr zu Hause sein. Und diese Woche, kurz nach der Sommersonnenwende, beginnt der Schabbat erst um 23.44 Uhr. Doch hat man zwischen 21.45 und 23.38 Uhr Zeit, ihn zu begrüßen.
Rabbi Feldman beruft sich hierfür auf ein halachisches Gesetz, das ein Zeitfenster von bis zu zwei Stunden vor der Dämmerung erlaubt.
Schabbatende ist jetzt im Juni allerdings erst frühmorgens um 1.30 Uhr – was gemeinsame Hawdalafeiern im Gemeindezentrum unmöglich macht.
Zahlen In den nächsten Wochen oder Monaten soll das Judentum staatlich anerkannte Religion in Island werden. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt diskutiert man darüber.
»Es sind aufregende Zeiten für uns. Jeden Tag kann es jetzt so weit sein«, sagt Rabbi Feldman. Die Anerkennung wird die große Frage beantworten: Wie viele Juden leben in Island? Denn fragt man einen Isländer, sind es keine bis sehr wenige. Fragt man Google, sind es zwischen 40 und 250. Doch fragt man die Gründer des Jewish Center Iceland, sind es einige Hundert, Tendenz steigend.
kerngruppe Karen berichtet von einer Kerngruppe aktiver Mitglieder und vielen reisenden Besuchern – vor Corona. »Unter den Touristen und Geschäftsreisenden gibt es auch Orthodoxe«, sagt sie, »doch wenn man orthodox lebt, ist Island nicht sehr attraktiv.«
An einer koscheren Infrastruktur wird gearbeitet, doch 2018 diskutierte das Parlament tatsächlich einen – mittlerweile verworfenen – Gesetzesentwurf, Beschneidungen zu verbieten. Auch eine jüdische Abteilung auf einem der allgemeinen Friedhöfe wird möglich sein, wenn das Judentum offiziell anerkannt ist.
Die meisten haben Karriere oder Liebe ins Land verschlagen.
Wie Karen und Mike leben die Gemeindemitglieder weitestgehend säkular. Deswegen funktioniert es auch so gut, die verschiedenen religiösen Hintergründe zusammenzubringen – denn es geht vor allem um ein Gemeinschaftserlebnis.
»Wir teilen einen gemeinsamen kulturellen Boden«, beschreibt Karen die Verbundenheit. Sie lebt sehr gern auf Island, obwohl sie einräumt, nie Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein. Trotzdem nimmt sie die ehemaligen Wikinger als freundlich und offen wahr. Über das Judentum wissen die meisten zwar kaum etwas, aber sie sind interessiert. Um es mit den vier Söhnen des Sederabends zu versinnbildlichen: Island ist der Sohn, der nicht zu fragen weiß.
Mike unterhält sich gern mit seinen Mitmenschen über das Judentum, Karen hingegen spricht ausschließlich mit Freunden über ihre jüdischen Wurzeln. Beide tragen ihre jüdische Identität mit Stolz. Sie empfinden eine tiefe Liebe zu Island und zu ihrer einzigartigen Gemeinschaft – ihrem Stück Zuhause.