Großbritannien

Schabbat in der Downing Street

Zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens ist die First Lady jüdisch. Doch im Kabinett sitzt eine Ministerin mit BDS-Vergangenheit

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  09.07.2024 18:02 Uhr

Incoming British Prime Minister Keir Starmer and his wife Victoria arrive at Number 10 Downing Street, following the results of the election, in London, Britain, July 5, 2024. REUTERS/Phil Noble Foto: Reuters

Zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens ist die First Lady jüdisch. Doch im Kabinett sitzt eine Ministerin mit BDS-Vergangenheit

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  09.07.2024 18:02 Uhr

In Belgravia, zehn Minuten von Downing Street 10, gebe es ein koscheres Geschäft für Challa, und fürs Dessert könne sie ihren Tiefkühler mit gefrorenen Früchten füllen, empfahl die Food-Journalistin des »Jewish Chronicle« der Gattin des frisch gewählten britischen Premierministers Keir Starmer. Und eine ganze Liste an Tipps für den Fall, dass bei der Schabbat-Vorbereitung die Zeit knapp werde.

Die Tatsache, dass Victoria Starmer und die beiden Kinder jüdisch und Mitglieder der liberalen Londoner St. John’s Wood-Synagoge sind, ja, dass der neue Staatschef sogar klarstellte, dass er freitagabends nicht arbeiten werde, um mit der Familie Schabbat willkommen zu heißen, erregt bereits so manche Gemüter.

Starmers Labour-Partei hat bei der Parlamentswahl 412 der 650 Sitze im Unterhaus gewonnen. Das ist die zweitgrößte Mehrheit für Labour in der Geschichte der Partei und das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Konservativen.

Jüdische Abgeordnete ziehen ins Unterhaus ein

Mit Starmer zogen auch zahlreiche jüdische Labour-Abgeordnete ins Unterhaus ein, ganze vier Jahre, nachdem der damals neu gewählte Labour-Chef mit dem von der britischen Menschenrechts- und Gleichberechtigungsstelle bestätigten Antisemitismus in der eigenen Partei durch klare Regeln und sofortiges Eingreifen reinen Tisch gemacht hatte.

Rishi Sunak hatte die Wahl anberaumt und dann verlorenFoto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Deshalb ist ihre Wahl auch Zeichen einer veränderten Partei, allen voran die ehemalige Rechtsanwältin Sarah Sackman, die den jüdisch geprägten Londoner Wahlkreis Finchley and Golders Green gewann. Sie löste dort den konservativen Abgeordneten Mike Freer ab, der dieses Jahr nicht mehr antreten wollte, nachdem Unbekannte sein Büro in Brand gesteckt hatten.

Jüdische Kandidaten gewannen auch in den Londoner Wahlkreisen Hendon, Queen’s Park and Maida Vale, in Chelsea and Fulham; im Norden Englands in Makerfield, in North Wirral, in Warrington, zwei Wahlkreisen in Leeds und einem Wahlkreis im westenglischen Bristol.

Auch der ehemalige Labour-Chef Ed Miliband, unter dessen Führung die Partei die Wahl im Jahr 2015 verlor, bleibt Abgeordneter für den Wahlkreis Doncaster North. Miliband, einer der beiden Söhne des verstorbenen marxistischen Soziologen Ralph Miliband, wird in der neuen Regierung als Minister für Energiesicherheit und Klimaneutralität antreten.

Historisch ist der Wahlsieg des einstigen Chirurgen Peter Prinsley im ostenglischen Bury St. Edmunds and Stowmarket. Er ist nicht nur der erste jüdische und der erste Labour-Abgeordnete im Wahlkreis, sondern dies auch noch in einer Region, in der im Jahr 1190 bei einem Pogrom 57 Juden ermordet und die Überlebenden vertrieben wurden.

Die Tories haben die meisten ihrer Wahlkreise verloren, was auch die jüdischen Abgeordneten betraf. Nach 14 Jahren parteiinterner Machtkämpfe, Skandale, inkompetenter und auch korrupter Entscheidungen haben die Wähler die konservative Partei, die den Brexit durchgedrückt hat, hart abgestraft. Als einziger jüdischer Abgeordneter konnte sich Julian Lewis im südlichen New Forest East halten.

Starmer ernennt Justizministerin mit BDS-Vergangenheit

Mit den Ergebnissen vom vergangenen Donnerstag ist Labour wieder die politische Heimat britischer Jüdinnen und Juden geworden, ein Status, den die Partei in den Jeremy-Corbyn-Jahren verloren hatte. Ein Nachgeschmack bleibt allerdings erhalten: Die neue Justizministerin Shabana Mahmood, die vor zehn Jahren noch aggressive BDS-Aktivistin war, wird zwar mittlerweile selbst heftig aus der muslimischen Gemeinschaft attackiert, weil sie die Hamas-Massaker scharf verurteilt und die Freilassung der Geiseln fordert, allerdings hat sie das Vorgehen internationaler Gerichte gegen Israel gutgeheißen.

Shabana Mahmood wurde von Keir Starmer zur Lordkanzlerin und Justizministerin ernanntFoto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Zudem ließen sich fünf unabhängige Kandidaten in Orten mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil oder Studentenzentren explizit als Fürsprecher Gazas aufstellen, darunter auch Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn, der gegen seine ehemalige Partei antrat. Sie alle schafften den Einzug ins Unterhaus. Auch hier gehörte der Genozidvorwurf immer wieder zum Wahlprogramm.

Die Verurteilung Israels wirkte auch in Bristol Central, wo die grüne Co-Parteivorsitzende Carla Denyer gegen die bisherige Labour-Abgeordnete Thangam Debbonaire gewann, die eigentlich Kabinettsmitglied werden sollte.

Immerhin, der israelfeindliche Linkspopulist George Galloway verlor seinen im Februar bei einer Nachwahl gewonnenen Sitz gegen den Labour-Kandidaten in Rochdale. Allerdings hat es zum ersten Mal auch die rechtspopulistische Anti-Einwanderungspartei Reform UK des ehemaligen Brexit-Propagandisten Nigel Farage ins Unterhaus geschafft. Mit fünf Abgeordneten.

Labour-Chef hat in der Partei aufgeräumt

Keir Starmer und die von ihm »aufgeräumte« Labour haben sich nach dem 7. Oktober klar hinter das Verteidigungsrecht Israels gestellt. In einem Interview nach dem letzten Parteitag sagte Starmer sogar, dass Israel das Recht habe, Gaza Wasser und humanitäre Hilfe vorzuenthalten, was zu Protesten und Austritten führte.

Jeremy Corbyn konnte sein Mandat verteidigenFoto: picture alliance / empics

Inzwischen fordert die Partei einen sofortigen Waffenstillstand, erweiterte humanitäre Hilfe und die Rückkehr der nach Gaza verschleppten israelischen Geiseln. Labour versprach, man werde einen unabhängigen palästinensischen Staat neben Israel als Teil eines Friedensprozesses anerkennen. Die Partei pocht auf die Zweistaatenlösung.

Bereits am vergangenen Sonntag hat Starmer mit Israels Premier Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas telefoniert. Außerdem gab er bekannt, die engen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Israel weiter ausbauen zu wollen, und verpflichtete sich gleichzeitig, die bestehende Kooperation zur Verteidigung weiterzuführen.

Labour ist wieder politische Heimat britischer Jüdinnen und Juden geworden.

Auf Starmers Labour wartet nicht weniger als die Neuaufstellung eines zerfallenen Landes. »Unsere Arbeit ist dringend, und wir beginnen heute damit«, sagte er dann auch in seiner ersten Rede als Premier.

Erste Amtshandlung war die Absage der Abschiebungen nach Ruanda. Stattdessen sollen die Schleuserbanden mit aller Macht bekämpft werden, die Menschen unter Lebensgefahr über den Ärmelkanal schicken.

Auf der To-do-Liste stehen vor allem auch das Wirtschaftswachstum, der Wohnungsbau, das marode Schulsystem, Investitionen in die Energiewende und die Sanierung des heftig angeschlagenen öffentlichen Gesundheitssystems (NHS). Natürlich wird es um eine Verbesserung der Beziehungen zur EU gehen, aber auch um die britische Verteidigungsfähigkeit.

»Diese Wunde, dieser Mangel an Vertrauen kann nur durch Taten geheilt werden, nicht durch Worte«, sagt Keir Starmer. »Meine Regierung wird so lange kämpfen, bis Sie wieder glauben können.« Und er meine damit alle Bürger Großbritanniens.

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