Familie Cheruty in Shenzhen ist für viele Chinesen eine exotische Enklave inmitten der pulsierenden Großstadt. Wenn Rabbi Shneor Cheruty mit seiner Frau Dina und den vier Kindern an Sonntagen im MixC, der berühmtesten Ladenpassage der südchinesischen Metropole, einkaufen geht, dann greifen nicht wenige Passanten nach ihrem kamerabestückten Mobiltelefon. Die ganz Neugierigen, und das sind in China nicht wenige, berühren auch gerne mal das unter der Kippa hervorquellende blonde Haar des siebenjährigen Avremi oder die an seiner Hose herabhängenden Zizit.
Das MixC liegt im Geschäftszentrum von Shenzhen, nicht weit von der Grenze zu Hongkong entfernt. Ein Fischerdorf war der Ort, bis die Pekinger Zentralregierung ihn 1980 zur Sonderwirtschaftszone erklärte. Heute leben in Shenzhen mehr als zwölf Millionen Menschen, Tendenz steigend.
»Reichtum ist ruhmvoll«, hatte Deng Xiaoping anlässlich seiner Reise in den Süden 1992 erklärt, und das hat dazu geführt, dass die Stadt auch für ausländische Investoren und Geschäftsleute attraktiver geworden ist. Und seit einem halben Jahr für Rabbi Cheruty und seine Familie zu ihrem Lebensmittelpunkt. Ein großer Sprung von Kiryat Malachi im Süden Israels in die Boomstadt im Perlflussdelta.
gucci-boutique Wer Rabbi Cheruty besuchen möchte, spaziert die mehrspurige, von Bäumen gesäumte Bao’an-Straße entlang, bis er die Gucci-Boutique erreicht. Dort überquert er den Boulevard und geht vorbei am Kung-Fu-Schnellimbissrestaurant hin zu einem etwa 14-stöckigen Wohnhaus. Nichts deutet darauf hin, dass sich in einem der Stockwerke das vor Kurzem eröffnete jüdische Gemeindezentrum befindet. Kein offizielles Schild, kein Name, keine Mesusa.
»Sie wissen ja, was 2008 in Mumbai passiert ist«, begrüßt Rabbi Cheruty den Gast und verweist auf den heimtückischen Terroranschlag auf das dortige Chabad-Haus mit sechs Toten, darunter der Rabbiner und seine Frau. Als sie ermordet wurden, waren sie etwa im gleichen Alter wie Shneor und Dina Cheruty, nicht einmal 30 Jahre.
Der Besucher tritt direkt in einen zum Speisesaal umgebauten Raum, der dank eines verglasten Balkons ziemlich groß wirkt. Die Tische sind fast alle gedeckt, aber sonst ist niemand zu sehen, außer Yossi, der sympathische Küchenchef aus Kalifornien, der eigentlich gar kein Koch ist, aber dem Rabbiner in der Anfangsphase zur Hand geht und am Abend ein hervorragendes Hühnchen mit Couscous und Bratkartoffeln hervorzaubern wird.
Anonymität Der Blick aus dem Fenster fällt auf symmetrisch angeordnete Wohnblöcke, wie sie hierzulande typisch für solche anonymen Siedlungen sind. Vom Boden wachsen einige Palmen in den Himmel. Alles ziemlich ordentlich und ruhig, kein Chaos und Lärm wie in Indien. Doch es ist, als wäre die Trauer über jenen grausamen Mord auch Tausende Kilometer östlich und vier Jahre danach noch immer spürbar.
Rabbi Cheruty, der trotz seines jugendlichen Gesichts ernst wirkt, bietet dem Gast ein Stück Schokoladenkuchen an. »Meine Frau hat ihn selbst gemacht«, erklärt er nicht ohne Stolz und fährt dann gleich fort: »Rebbe Menachem Schneerson hat uns Gesandten, Schluchim, die Aufgabe auferlegt, für Juden in aller Welt einen Ort zu schaffen, wo sie sich treffen können und ihren Glaubensbrüdern, wenn nötig, helfen.«
Abgesandte der chassidischen Chabad-Bewegung gibt es inzwischen schon mehr als 4000, und das auch an Orten, die überhaupt nichts mit jüdischer Geschichte zu tun haben. Cherutys Schwager beispielsweise hat kürzlich ein Chabad-Haus in Kunming, der Provinzhauptstadt von Yunnan, eröffnet.
Mission Nicht alle Juden schätzen die Lubawitscher »Missionstätigkeit«, wie sie etwa in Internetforen ironisch kritisiert wird. Shneor Cheruty, der sein Studium auf einem Rabbinerseminar in Brasilien abgeschlossen hat, ist allerdings keineswegs darauf aus, seine Glaubensrichtung anderen aufzuzwingen, sondern begegnet auch liberalen Juden mit Toleranz.
Wie als Beweis dafür klopft es in diesem Moment an die Tür, und herein tritt Itai Carmel, ein Israeli, der seit einigen Jahren in Shenzhen arbeitet. Er bezeichnet sich als liberal, will aber den neu in der Stadt weilenden Cheruty nach besten Kräften auch finanziell unterstützen. Normalerweise erhalten die Chabad-Häuser von der Zentrale in New York kein Geld, und so ist auch Cheruty nebst seinen eigenen Ersparnissen auf den Beistand von Geschäftsleuten und anderen Gönnern angewiesen.
Zwar gibt es in Shenzhen seit 2006 bereits einen Rabbiner der Chabad-Bewegung, doch liegt sein Zentrum ungefähr eine Stunde außerhalb der Stadtmitte im Viertel Shekou. Für jüdische Geschäftsreisende, die koscher essen oder den Schabbat gemeinsam mit ihresgleichen verbringen möchten, ist das zu weit entfernt. Verkehrsstaus, sagt Carmel, könnten leicht einen halben Tag in Anspruch nehmen.
Geschäftsleute Anders als das Chabad-Zentrum in Shekou will Cheruty besonders für jüdische Geschäftsleute da sein. Sein Zentrum steckt noch mitten im Aufbauprozess. Der junge Rabbiner ist voller Tatendrang: Morgen wird er einen Ort zum Schächten inspizieren, ungefähr zwei Stunden außerhalb des Zentrums. Er hofft auf einen sauberen Platz, wo er, der in den USA auch eine Spezialausbildung zum Schochet gemacht hat, Hühner und andere Tiere rituell schlachten kann. Sein Kollege, Rabbi Shalom Chazan in Shekou, hat für den kommenden Schabbat ein paar Hühner bestellt, sie sollen zum ersten Mal nicht mehr aus Hongkong importiert werden.
Doch nicht nur das bereitet Cheruty Kopfzerbrechen. Er, der verständlicherweise nur wenige Worte Chinesisch spricht, muss jeden dritten Monat mit seiner gesamten Familie ausreisen, um ein neues Visum zu beantragen. Zwar fährt er nur nach Hongkong, aber das ist immer noch teuer genug und zu fünft schon mal ein kleines Abenteuer, dieses Bad in den chinesischen Massen.
Auch der Gebetsraum wartet auf die offizielle Eröffnung, die Tora auf den Aron Hakodesch, die Gestelle auf die Gebetsbücher, die Stühle auf ihre Besucher. Momentan wird improvisiert, aber das mit Inbrunst und Zuversicht. Zwar untersteht der Import religiöser Schriften in China strengsten Vorschriften, doch hofft der junge Rabbiner auf das Verständnis der Behörden, die verstehen mögen, dass vom Judentum keine Gefahr für die eigene Bevölkerung ausgeht. Oder er verlässt sich auf jene Durchreisende, denen es eine Freude ist, den in dieser materialistischen Welt lebenden Juden geistige Lektüre als Geschenk mitzubringen.
Ein paar Stockwerke höher machen sich vier Stunden später Cherutys Kinder zum Schlafen bereit. Gemeinsam mit ihrem Vater beten sie das Schma Jisrael, und dann schlüpft der siebenjährige Avremi noch ein letztes Mal an diesem Tag aus dem Bett, um hüpfend und singend mit einer Mini-Torarolle durchs Wohnzimmer zu tanzen. »Er weiß, dass er ein Botschafter des Rebben ist«, sagt sein Vater und strahlt übers ganze Gesicht. Etwas müde fügt er hinzu: »Es war ein langer Tag, und morgen wird es bestimmt noch anstrengender.«
Bestimmtheit Draußen in der Dunkelheit haben längst riesige Reklametafeln zu leuchten begonnen, auch die, die sinnliche Freuden anpreisen. Für einen kurzen Moment befällt den Gast ein Gefühl der Unsicherheit, ob Rabbi Cheruty seiner Berufung gewachsen ist. Doch dieser leise Zweifel scheint durch die Bestimmtheit, mit der der Vater die gelbe Platte mit dem Gebetstext auf das obere Doppelstockbett seiner Kinder legt, ausgeräumt zu sein. Es ist ihm, als wäre das für menschenunmöglich Gehaltene in dieser Welt doch möglich. Dann schließt der Rabbiner die Tür hinter sich.
Die Cherutys werden gemäß der ihnen aufgetragenen Mission ihr ganzes Leben in Shenzhen verbringen. Der alljährliche Kurzbesuch zu Hause ist ein kleiner Trost, das Heimweh ein wenig zu stillen.