Natürlich kann man es sich einfach machen: Man klickt auf Amazon.com, gibt »Etrog« ins Suchfenster ein – und bekommt als Angebot ein garantiert koscheres »Lulav and Etrog Set«, Kostenpunkt: 48,99 Dollar.
Andererseits: Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht? Weiß man denn, was man da in seinem Amazon-Päckchen geliefert bekommt? Wie sicher kann man sein, dass der Etrog wirklich »ohne Fehl«, also koscher ist? Und was macht man in einem Schmitta-Jahr, wenn Etrogim aus allen Ländern der Welt stammen dürfen, nur um Gottes Willen nicht aus Israel? Und dann wären da auch noch die Gebote der ökologischen Moral, deren wichtigstes bekanntlich lautet: »Kaufe nur Produkte aus der näheren Umgebung!« Aber wie, bitte, soll man das anstellen, wenn man in Amerika lebt?
Natürlich kann man versuchen, Etrogim selbst anzubauen – zumindest, wenn man nicht in Minnesota oder Maine lebt, sondern in südlichen Gefilden. Überall, wo Zitrusfrüchte wachsen, gedeihen auch Etrogbäume – etwa in Florida. Allerdings gilt es, die Regeln der Kaschrut zu beachten, als da wären: Der Etrogbaum darf nicht gepfropft sein, er hat gefälligst auf natürlichem Weg aus der Erde zu wachsen. Er muss das ganze Jahr über gleichzeitig blühen und Früchte tragen, es müssen alte und neue Früchte zugleich auf ihm zu finden sein. Und das Wichtigste: Die Frucht, die man für Sukkot erntet, muss »schön« sein. Wenn etwa ein Blatt in die Frucht hineinwächst und dabei ihre Schale verletzt, hat man ein ernsthaftes Problem.
Setzling Wer sich von all diesen Einschränkungen nicht abschrecken lässt, der verfahre wie folgt: Man fülle einen mäßig großen Blumentopf mit einer Mischung aus Kompost, Sand und Perlitgestein. Mit einem Bleistift ein Loch hineinbohren. Einen koscheren Setzling, der von einem koscheren Etrogbaum stammt, dort hinein versenken, und zwar so, dass noch eine Fingerlänge aus der Erde schaut. Etwas weniger als einen Viertelliter Wasser zugießen. Den Blumentopf plus Setzling in eine Plastiktüte hüllen. Zwei Monate lang an einem Ort stehenlassen, wo es ständig schön warm ist, aber kein direktes Sonnenlicht das Wachstum stört.
Sobald der Setzling Wurzeln geschlagen hat, pflanze man ihn an einen Ort, wo er tagsüber mindestens sechs Stunden Sonnenlicht hat. Am Ende darüber nachdenken, ob es jetzt angemessen wäre, Schiwe zu sitzen, weil das biologische Experiment misslungen und der Etrogbaum in spe verdorrt ist.
Kaschrut Also gut: Wir kaufen einen Etrog. Die meisten dieser duftenden, großen, gelben Früchte stammen aus Israel, Marokko und Italien. Auch auf Rhodos sollen Etrogbäume wachsen, aber vor denen hat man uns gewarnt: nicht koscher! Im Internet kursieren Gerüchte, dass Kuba Etrogbäume anbaut. Sollen wir das glauben? Was ist ihr Kaschrut-Status? Stehen sie unter Aufsicht von Fidel Castro persönlich? Und sind die ebenso von dem amerikanischen Embargo betroffen wie Havanna-Zigarren? Davon lassen wir lieber die Finger.
Durch heftiges Googeln haben wir herausgefunden: Der bekannteste Etrogfarmer in Amerika ist über 80 Jahre alt, lebt in Kalifornien (wo sonst?), heißt John Kirkpatrick und ist Presbyterianer. Auf die Idee, Etrogim anzupflanzen, kam er vor 30 Jahren durch einen Telefonanruf. Yisroel Weisberger, ein orthodoxer Jude, meldete sich aus Brooklyn, wo er in einem Judaica-Laden arbeitete.
Weisberger hatte einen Nebenjob beim Zoll, wo er mit dem Import von Etrogim befasst war. Er suchte nach einem amerikanischen Farmer, der daran interessiert sein könnte, diese seltenen Zitrusfrüchte anzubauen. Und weil Kirkpatrick damals gerade der Chef des Citrus Research Board war – einer kalifornischen Vereinigung, die sich die Pflege und Veredlung von Zitrusfrüchten zum Ziel gesetzt hat –, dachte Weisberger, Kirkpatrick könne ihn vielleicht weitervermitteln. Das Telefongespräch dauerte eine Stunde, und am Ende war Kirkpatrick dermaßen fasziniert, dass er selbst zum Etrogfarmer wurde.
Orange Allerdings sah er sich mit größeren Schwierigkeiten konfrontiert. »Ich fand heraus: Obwohl ich ein Experte für Zitrusfrüchte war, war ich doch kein Experte für den Etrog«, so Kirkpatrick. »Es ist einfacher, 800 Hektar mit Orangen- oder Zitronenbäumen zu bepflanzen als auch nur einen einzigen Hektar mit Etrogim.« Er kaufte Setzlinge aus Israel, aber am Anfang kamen bestenfalls mittelmäßige Früchte dabei heraus, die beim Straßenverkauf nicht mehr als zwei oder drei Dollar das Stück brachten.
Die Wende kam 1987. Erstens war endlich die Ernte gut, zweitens war es zufällig gerade ein Schmitta-Jahr, und viele Kunden interessierten sich für die Ware des amerikanischen Farmers. Mittlerweile versteht der Presbyterianer Kirkpatrick so viel von der Halacha wie ein orthodoxer Jude, zumindest, wenn es um große gelbe Früchte geht. 250 Etrogbäume soll es auf seiner Farm geben, deren Stammbäume detailliert nachgewiesen werden können. Pro Jahr wachsen auf ihnen circa 3000 Früchte, die koscher für Sukkot sind – 9000 weitere sind treif. Sie landen häufig in Marmelade – oder in Wodka mit Zitrusgeschmack.
Von seinen jüdischen Geschäftspartnern hört man nur Gutes über John Kirkpatrick. David Wiseman etwa, der Eigentümer von Zaide Reuvens Etrog Farm in Dallas, sagt: »Die produzieren hervorragende Qualität, und es sind grundehrliche Leute. Es ist ein Vergnügen, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der sein Geschäft versteht.« Jene Etrogim und Lulavim, die Wiseman im Paket verkauft, rangieren im Preis zwischen 50 und 130 Dollar.
Wüstenklima John Kirkpatrick könnte bald Konkurrenz bekommen: Matt Bycer, ein Rechtsanwalt aus Phönix, hat vor ein paar Jahren ebenfalls angefangen, Etrogim zu züchten. Das Wüstenklima in Arizona ist ideal dafür: heiß, aber nicht zu feucht. Sein erster Versuch ging allerdings gründlich in die Hose. Er mietete ein großes Haus, ließ die Etrogbäume drinnen und umgab sie mit Alufolie und Wärmelampen. Kein einziger hat überlebt – sie wurden von Insekten gefressen und verrotteten.
Matt Bycer lernte aus diesem Fehler, dass er die Bäume nicht nur wässern darf, sondern das Wasser zwischendurch immer wieder verdunsten lassen muss. Mittlerweile züchtet er seine Etrogim in einem Gewächshaus.
»Tagsüber bin ich Patentanwalt, in der Dämmerung werde ich zum Farmer«, sagt er. Seine Nachbarn halten ihn für ein bisschen meschugge, aber das stört ihn nicht. Er schätzt, dass er 15 Stunden pro Woche für seine Etrogzucht aufwendet und pro Jahr 10.000 Dollar investiert. Mittlerweile hat er 200 gesunde Bäume, von denen jeder ungefähr 40 Früchte abwirft.
Pestizide Bekanntlich können Juden sich über nichts einigen – also auch nicht darüber, welche Sorte von Etrogbäumen die besten sind. Matt Bycer will es allen recht machen, also züchtet er gleich vier Sorten: marokkanische Etrogim, die einen sanduhrförmigen Streifen in der Mitte haben; Chazon-Ish-Etrogim aus Israel; grüne Diamente-Etrogim und jemenitische Etrogim, die größer sind als die anderen Sorten. Aber ganz gleich, welche Sorte, alle werden nach denselben organischen Prinzipien behandelt, das heißt: bloß keine künstlichen Pestizide!
»Ich muss immer hinter ihnen her sein«, sagt Matt Bycer. »Wenn es einen einzigen Tag zu viel regnet oder die Sonne einen Baum zu lang bestrahlt, dann stirbt die Pflanze.« Aber der Rechtsanwalt und Farmer ist guter Dinge. Sein Hobby macht ihn glücklich, und er hofft, dass er seine Ware schon bald en gros verkaufen kann.
Und was machen in der Zwischenzeit wir Etrog-Endverbraucher? Kalifornien und Arizona liegen jeweils viele Flugstunden von New York entfernt. Es würde unsere Haushaltskasse sprengen, die koscheren Südfrüchte direkt beim Erzeuger zu beziehen, obwohl das natürlich am schönsten wäre. So bleibt am Ende wohl wirklich nur Amazon übrig. Dort kann man allerdings für sage und schreibe zehn Dollar auch ein Lulav- und Etrog-Set für Kinder kaufen. Aus Plüsch!