Friedensaufrufe sind in Kriegszeiten eine heikle Angelegenheit. In Russland besteht sogar das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung. Die der Chabad-Bewegung nahestehende Föderation Jüdischer Gemeinden Russlands (FEOR) versuchte kürzlich, einen Weg zu finden, für den Frieden einzutreten und dennoch die Gefahren für eine Weiterarbeit in dem Krieg führenden Land möglichst gering zu halten.
Anfang September fanden sich 75 Rabbiner in Moskau zu ihrem alljährlichen Kongress ein, auf dem es diesmal um durchaus existenzielle Fragen ging. Oberrabbiner Berel Lazar, dem ein enges Verhältnis zum Kreml nachgesagt wird, gab den Ton vor. Die oberste Aufgabe der religiösen Führung bestehe darin, ihren Gemeinden beizustehen: »Ein Rabbiner sollte immer bei seinen Juden sein, auch in schwierigen Zeiten.« In seiner Rede dankte Lazar zudem ausdrücklich den in der Ukraine trotz der Gefahr zurückgebliebenen Rabbinern.
blutvergiessen In der gemeinsam verabschiedeten Resolution, in der die Ukraine mit keinem Wort erwähnt wird, heißt es: »Wir beten, damit das Blutvergießen ein Ende hat.«
Israels Präsident Isaac Herzog und die israelischen Oberrabbiner unterstützten die Versammlung und ihre Entscheidung, in Russland zu bleiben, ausdrücklich. Damit stellen sie sich auch hinter die immanente Kritik an dem langjährigen früheren Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, wie sie in der Resolution formuliert ist. Ohne Namen zu nennen, verurteilt die FEOR Rabbiner, die aus politischen Gründen ihre Gemeinden im Stich lassen.
Dass damit Goldschmidt gemeint ist, liegt auf der Hand. Nach Kriegsbeginn hatte er Russland verlassen und später auch seinen offiziellen Rücktritt erklärt – auf Druck des russischen Sicherheitsapparates. So stellte es seine Schwiegertochter dar. Auch andere Rabbiner sind ausgereist, die meisten aber blieben in Russland.
AUSWANDERUNG Goldschmidt vertrat den Kongress jüdischer religiöser Organisationen KEROOR, dessen Lage sich durch die offene Kritik seitens der FEOR nun verschlechtern dürfte. Zumal Goldschmidt mit einem Aufruf an alle russischen Juden konterte, Russland schnellstmöglich den Rücken zu kehren, da er um die Zukunft der im Land verbliebenen Community ernsthaft besorgt sei. Der Deutschen Welle nannte er in einem Interview als Gründe zunehmenden Antisemitismus und Ausreisehürden, aber auch die negativen Langzeitfolgen der Sanktionen für die russische Wirtschaft.
Zeitgleich zum Kongress veröffentlichte der Journalist Semjon Dowschik in seinem Telegram-Kanal »jewishquestion« Informationen, wonach einige führende Mitglieder der Choralsynagoge, wo auch die KEROOR ihren Sitz hat, jüngst vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB bedrängt worden seien. Mit Schlomo Slotskij versuche der FSB, einen eigenen Kandidaten als Nachfolger für Goldschmidt durchzusetzen. Slotskij hatte vor einigen Monaten als einziger Rabbiner offen den Krieg Russlands gegen die Ukraine unterstützt.