Brasilien

Samba unterm Leuchter

Wie die jüdische Gemeinschaft an der Copacabana Chanukka feiert

von Oliver Noffke  02.12.2021 08:27 Uhr

Riesige Leuchterträger auf Stelzen: Chanukkafeier am Sonntagabend in Rio de Janeiro Foto: Oliver Noffke

Wie die jüdische Gemeinschaft an der Copacabana Chanukka feiert

von Oliver Noffke  02.12.2021 08:27 Uhr

Schlagstöcke feuern im Stakkato über die Trommeln. Die Schellen zweier Rocars treiben den Beat weiter an. Der Wumms der Contemporánea, einer tief klingenden Pauke, macht den Sound perfekt. Ein Fest ohne eine überschwängliche Samba ist in Rio de Janeiro unvorstellbar. So auch Chanukka.

Am berühmtesten Strand der brasilianischen Metropole leuchtet seit Sonntag eine etwa sieben Meter hohe Chanukkia. Seit dem 19. Jahrhundert ist die Copacabana ein Zentrum jüdischen Lebens im Land. Derzeit erwacht es wieder aus dem Tiefschlaf der Corona-Pandemie.

favela »Vergangenes Jahr lief alles über Zoom-Videos«, sagt Rabbiner Yehoshua Binyomon Goldman, »wir konnten nicht gemeinsam tanzen«. Nun wippen Hunderte mit den Füßen, während Kinder der Sambaschule aus der nahe gelegenen Favela Santa Marta aufspielen.

Das sommerliche Wetter hält das Coronavirus in Schach – ein bisschen Normalität kehrt zurück.

Auch Esther Frank empfindet das Lichterfest in diesem Jahr als einen Aufbruch. »Für jeden Tag sind so viele Partys angesetzt. Wir wissen gar nicht, ob wir das alles schaffen«, freut sie sich. Umringt von ihren drei Töchtern fügt sie hinzu: »Aber für die Kinder ist das wirklich toll.« Die Jüngste hat in der Schule einen Leuchter gemalt, den man auch anknipsen kann. Werden die beiden Kupferkontakte auf der Rückseite des Papiers zusammengedrückt, funkelt auf der Vorderseite eine Diode. Die Mädchen lassen Dreidel über den Esstisch tanzen. Die Älteste darf in diesem Jahr die Kerzen anzünden.

Die Hochphase der Pandemie habe die Familie stark verunsichert, sagt Esther Frank. »Die ersten vier Monate sind wir mit den Kindern nicht aus dem Haus gegangen.« Einerseits sei es eine große Herausforderung gewesen, zu fünft zu Hause zu sein. »Es hat uns als Familie aber auch näher zusammengebracht«, wendet ihr Mann André ein. Beide stammen aus São Paulo – wo es allerdings keinen Strand gebe, wie die Töchter schnell einwerfen, was natürlich ein unüberwindbarer Nachteil sei.

wurzeln Die Wurzeln von Andrés Familie liegen in Ungarn. Esthers Mutter wurde im Libanon geboren und wanderte in den 60er-Jahren nach Brasilien aus. Beide, André und Esther, arbeiten heute an der jüdischen Schule TTH Bar-llan im Stadtteil Copacabana.

Vor einem Jahr wurde Brasilien von einer schweren zweiten Welle erfasst. Erst fiel Chanukka aus, und auch Purim konnte im Februar nicht wie gewohnt stattfinden. »Wir mussten kreativ sein in der Gemeinde«, sagt André Frank. »Wir hatten dann eine Theatervorstellung im Drive-Thru auf die Beine gestellt. So konnten die Familien gemeinsam in einem Auto sitzen und sicher bleiben.«

Kaum ein Land wurde von Corona so schwer getroffen wie Brasilien. Nach offiziellen Angaben sind mehr als 614.000 Menschen mit Covid-19 verstorben. In den Augen vieler hat der rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro die Lage noch verschlimmert. Erst zweifelte er öffentlich an der Schwere der Krankheit, später an der Wirksamkeit der Impfstoffe.

VERWUNDERUNG Doch in jüngster Zeit hat sich die Lage im Land deutlich gebessert. In Rio den Janeiro konnte vor zwei Wochen die letzte Covid-Klinik geschlossen werden. In São Paulo, der größten Stadt des Landes, geht man davon aus, in Kürze 100 Prozent der erwachsenen Bevölkerung geimpft zu haben. Die eskalierende Lage der Corona-Pandemie in Deutschland oder Österreich stößt unterm Zuckerhut auf große Verwunderung.

»Momentan fühlt es sich wieder sehr gut an, hier zu leben«, sagt André Frank. »Viele sind geimpft, es gibt wieder Gottesdienste, wir können wieder zusammenkommen.« Das schlechte politische Management der Pandemie werde womöglich tiefe Spuren in der jüdischen Gemeinde der Stadt hinterlassen, glaubt er. »Es gibt viele, die es nach Israel zieht«, sagt er. In den vergangenen fünf Jahren seien etwa 100 Schüler nach Israel gegangen, entweder, weil sie dort einen Highschool-Abschluss machen wollten, oftmals aber, weil sich die Familien von diesem Schritt bessere wirtschaftliche Perspektiven erhoffen.

Als Hauptgrund für die Abwanderung vermutet er aber etwas anderes: »Hier ist die Gemeinde viel kleiner als in São Paulo«, sagt Frank. Die Synagogen fassten nicht so viele Beter. Die Auswahl an koscheren Geschäften habe sich in den vergangenen Jahren zwar gebessert, sei jedoch nach wie vor übersichtlich. »Gleichzeitig gibt es hier mehr Leute, die tiefer im Judentum verwurzelt sind.« Auch zionistische Strömungen sehe er in Rio stärker ausgeprägt als in anderen brasilianischen Städten.

Die Copacabana ist seit Langem ein Zentrum jüdischen Lebens im Land.

Auch die Franks hätten schon überlegt, nach Israel zu ziehen. »Allerdings müssten wir auch dort zusammenarbeiten können«, wirft Esther ein. Was sie davon abhält, sei allerdings, dass sie in Rio angekommen seien.

KLEZMERBAND Im Crescendo klatschender Hände verklingen an der Cobacabana die letzten Töne der Samba. Am Ende der Avenida Atlantica haben die Häuserschluchten bereits die Sonne verschluckt. Auf der Bühne stolpern nun kleine Makkabäer durch ihren Text, besiegte Hellenen stellen sich kichernd tot. Ein Grußwort von Bürgermeister Eduardo Paes wird verlesen. Dann der Höhepunkt: Eine Klezmerband spielt auf, nachdem das erste Licht der Chanukkia gezündet wurde.

Rabbiner Goldman beginnt, mit vier Jungen im Kreis zu tanzen. Sekunden später ist kaum noch Platz vor der Bühne. In der zweiten Reihe verbitten sich zwei ältere Damen, gestützt zu werden, Klatschen und Stampfen geht auch mit steifen Hüften. Ein Mädchen futtert heimlich eine zweite Sufgania. Aus den Strandbars kommen Leute in Flip-Flops herüber, fragen nach dem Leuchter und freuen sich über die Musik. Süß und melancholisch, wild und zart. »Das ist ja wie Samba«, bemerkt eine Zuschauerin. »Wir feiern Chanukka«, erklärt eine junge Frau mit Scheitel.

»Wir veranstalten das hier an der Praia, weil es für alle sein soll«, sagt Rabbiner Goldman. »Jeder Mensch kann ein Licht sein und gute Taten tun.«

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