Als die achtjährige Ruth am 1. Februar 1933 wie jeden Tag in die Rückersdorfer Volksschule ging, war mit einem Mal alles anders. »Ich hatte keine Schulbankfreundin mehr, und die Kinder saßen alle zusammengedrückt weit entfernt von mir«, erinnert sich Ruth Weiss im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
In dem Dorf bei Nürnberg wurden jüdische Menschen schon unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ausgegrenzt und verfolgt.
Heute ist eine Realschule im bayerischen Aschaffenburg nach Ruth Weiss benannt, und ihr Roman »Meine Schwester Sara« war mehrfach Pflichtlektüre in den Realschulen Baden-Württembergs. Für ihr Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung sowie für ihre journalistische Berichterstattung über die Unabhängigkeitsbewegungen des südlichen Afrikas erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem in diesem Frühjahr das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Gemischtwarenladen in Johannesburg
2005 gehörte sie zu den 1000 Frauen, die die Schweizer Organisation »FriedensFrauen weltweit« für den Friedensnobelpreis nominierte.
Am 26. Juli wird Ruth Weiss 100 Jahre alt.
Als Ruth Löwenthal kam sie 1924 im fränkischen Fürth zur Welt.
Schon kurz nach der Machtübernahme Adolf Hitlers gelang dem Vater die Emigration nach Südafrika. Die Mutter blieb zunächst mit Ruth und ihrer Schwester Margot in Fürth, wo die Mädchen die Israelitische Realschule besuchten.
»In der Schule waren viele Kinder wie wir, die auf die Ausreise warteten«, erinnert sie sich. »Von Heimatgefühl war da schon keine Spur mehr.« 1936 folgte die Familie dem Vater ins südafrikanische Johannesburg, wo dieser einen Gemischtwarenladen übernahm.
Repressalien und Rassentrennung
Gerade selbst den Repressalien der Nationalsozialisten entflohen, erlebte die junge Ruth in Johannesburg die Rassentrennung als zutiefst ungerecht. »Ich stellte schnell fest, dass es in Südafrika gleiches Recht für alle gab, nur nicht für Schwarze, genau wie es in Fürth nur gleiches Recht für Arier gegeben hatte.«
Auch wenn ihre Familie in bescheidenen Verhältnissen lebte, so hätte Ruth doch als Weiße in Südafrika ihre Privilegien als selbstverständlich hinnehmen können, würdigte die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer (1923-2014) ihre enge Freundin.
Ruth Weiss hingegen habe die Verantwortung für die Verhältnisse in ihrem Einwanderungsland so angenommen, als wäre sie dort hineingeboren: »Noch dazu in einer Weise, wie dies nur sehr wenige Weiße getan haben.«
»Völlig unüblich«
Ruth Weiss schloss sich in Johannesburg der jüdischen Kulturvereinigung an, in der sich kritische intellektuelle Emigranten trafen. Dort sei sie mit politischem Denken in Kontakt gekommen, sagt sie. Zudem traf sie hier ihren deutlich älteren Mann, den Journalisten Hans Weiss.
Dieser schob ihr immer öfter journalistische Aufträge zu, die er nicht selbst erledigen wollte. Neben ihrem damaligen Job als Versicherungsangestellte schrieb Ruth Weiss unter seinem Namen Artikel für deutsche Medien und übernahm auch seine Dienstreisen.
»Es war damals völlig unüblich für eine Frau, alleine durch Afrika zu reisen«, erzählt sie. Dadurch habe sie aber schon früh Kontakte zu afrikanischen Freiheitsbewegungen knüpfen können. Ab 1960 stieg sie dann offiziell in den Journalisten-Beruf ein.
Nicht mehr erwünscht
Inzwischen getrennt von Hans Weiss, arbeitete sie zunächst für südafrikanische Wirtschaftszeitungen. Wegen ihrer kritischen Berichterstattung über das Apartheid-System wurde ihr 1965 während einer längeren Dienstreise nach Deutschland mitgeteilt, dass sie in Südafrika nicht mehr erwünscht sei. »Ein Ereignis, mit dem ich nicht gerechnet hatte«, sagt sie rückblickend.
Ab 1966 arbeitete die alleinerziehende Mutter eines Sohnes in der britischen Kolonie Rhodesien, dem späteren Simbabwe, sowie in Sambia - unterbrochen von mehreren Stationen in London. Sie lernte viele spätere Staatschefs wie Nelson Mandela oder den sambischen Präsidenten Kenneth Kaunda persönlich kennen.
Von 1975 bis 1978 versuchte sie es noch einmal in ihrem Geburtsland und arbeitete in Köln bei dem Rundfunksender »Deutsche Welle«. »Das war keine gute Zeit«, sagt sie. »Damals waren die Deutschen bestrebt, mit der Nazi-Zeit nichts mehr zu tun zu haben.«
Bauernhof in Dänemark
Das sei 20 Jahre später ganz anders gewesen: Seit den 1990er Jahren war Ruth Weiss - mittlerweile im Ruhestand - regelmäßig in deutschen Schulen als Zeitzeugin zu Gast und las aus ihrem Roman »Meine Schwester Sara«.
Im Jahr 2002 kehrte sie noch einmal ganz nach Deutschland zurück und lebte 13 Jahre lang im münsterländischen Lüdinghausen, wo sie enge Freunde hat. Inzwischen wohnt sie bei ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihrem Enkel auf einem Bauernhof in Dänemark.
Immer noch ist Ruth Weiss als Zeitzeugin an Schulen gefragt - wenn auch zuletzt per Video-Call. Heute bedrücken sie das Wiedererstarken des Rechtsextremismus und die Zunahme antisemitischer Übergriffe in Deutschland, wie sie sagt: »Ermutigend ist aber, dass Menschen dagegen demonstrieren.«