Linguistik

Russisch ist das neue Jiddisch

Russisch ist das neue Jiddisch

Linguistik

Russisch ist das neue Jiddisch

Ein Viertel aller Juden stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Wird Russisch zur neuen Hauptsprache des Judentums?

von Tal Leder  08.09.2019 07:34 Uhr

Vor Kurzem flog Marc David von Tel Aviv nach New York. Einmal im Jahr besucht er seine Heimatstadt, wo seine Eltern leben. Diesmal reiste er mit seiner Frau Julia. Nach ihrer Ankunft wurde das Ehepaar von Marcs Vater abgeholt, und sie fuhren zu seiner Wohnung nach Manhattan. Gleich danach wollten sie gemeinsam bei »Katz’s Delicatessen« essen.

Der ältere Mann, der ihre Bestellung entgegennahm, kam Marc irgendwie bekannt vor. »Der ist bestimmt aus Israel«, sagte er zu seiner Frau. »Oder ein Italiener«, antwortete sie. Als der Mann einem Gast etwas auf Russisch erklärte, waren beide überrascht.

Mit Jiddisch konnte ein Jude früher in fast allen Ländern zurechtkommen.

»Kommen Sie aus der ehemaligen UdSSR?«, sprach ihn Julia auf Russisch an. Sofort entwickelte sich ein Gespräch, und beide redeten miteinander, als ob sie sich seit Jahren kennen würden. »Er heißt Oleg Levi und kommt aus Czernowitz in der Ukraine«, erklärte Julia. »Meine Großeltern stammen ja auch von dort.«

Das Interessante an dieser Konversation war, dass beide durch die russische Sprache eine Verbindung zu ihrer jüdischen Herkunft herstellten, eine Art vertrautes Gefühl. Manch einen erinnert das an früher, als Jiddisch die Lingua franca der jüdischen Diaspora war.

identität Mit Jiddisch konnte ein Jude früher ohne Probleme in fast allen Ländern zurechtkommen. Für die Mehrheit der 18 Millionen Juden, die vor der Schoa auf der ganzen Welt lebten, war Jiddisch die Muttersprache. Es war aber noch mehr: eine Lebensweise, verbunden mit Sprache, Kultur, Kochkunst, sowie eine emotionale Bindung und Identifikation mit dem Judentum.

Der Holocaust zerstörte einen Großteil dieser Kultur. Doch bereits Anfang des 20. Jahrhunderts war Jiddisch in der zionistischen Bewegung in Palästina verpönt und sollte durch Hebräisch als die einzige Sprache der Juden ersetzt werden. Ziel war, eine einigende Identität zu schaffen. Jiddisch assoziierte man mit den »schwachen« Juden aus den Ghettos Europas; Hebräisch dagegen sollte die Sprache des stolzen und wehrhaften »Muskeljuden« werden.

War Jiddisch in den USA, vor allem an der Lower East Side in New York, noch lange nach der Schoa lebendig, so verschwand es im Zuge der Assimilation bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts nahezu vollständig. Auch in Israel verlor das Jiddische immer mehr an Bedeutung. Bis auf einige ältere Menschen sprechen heute lediglich aschkenasisch-orthodoxe Juden Jiddisch. Sie betrachten Hebräisch als heilige Sprache, die für das Gebet und das religiöse Studium reserviert ist.

Manch einen erinnert das an früher, als Jiddisch die Lingua franca der jüdischen Diaspora war.

»Russisch ist das Jiddisch von heute, die Sprache der jüdischen Diaspora«, sagte der Historiker David Shneer, Inhaber des Louis-P.-Singer-Lehrstuhls für jüdische Geschichte an der Universität von Colorado kürzlich in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung »Haaretz«.

Gab es um 1900 noch mehr als fünf Millionen Juden innerhalb der Grenzen des Russischen Reichs, so leben im Jahr 2019 viermal so viele russischsprachige Juden außerhalb der ehemaligen Sowjetunion. In den jüdischen Gemeinden in den USA und Kanada ist knapp ein Viertel der Menschen russischer Herkunft, in Israel sind es 18 Prozent und in Deutschland sogar fast 80 Prozent.

Herkunft Die gemeinsame Sprache wird gepflegt, auch weil sie eine Möglichkeit ist, mit dem Judentum in Verbindung zu bleiben. »Russische Juden sprechen mit ihren Kindern Russisch, weil sie dadurch eine Beziehung zum Herkunftsland vermitteln wollen. Russisch ist eine Sprache, die sie mit ihrem Judentum verbinden«, sagt Shneer über die russischen Juden.

Während sich Familie David die Delikatessen von Katz schmecken ließ, wechselten sie immer wieder ein Wort mit Oleg Levi. Er kam bereits in den 70er-Jahren aus der heutigen Ukraine in die USA. Von Anfang an lebte er in Brighton Beach. Die Gemeinde im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn wird wegen der vielen eingewanderten Juden aus der ehemaligen Sow­jetunion auch »Little Odessa« genannt.

»Uns verbindet die russische Sprache auch mit dem Judentum«, sagt Oleg, »besonders in Ländern wie in den USA, aber auch in Deutschland und in Israel, wo ebenfalls ein Teil meiner Familie lebt und wo wir Russen als nicht jüdisch genug angesehen werden.«

Die meisten, die in den 70er- oder 80er-Jahren kamen, sprachen kaum noch Jiddisch und waren durch den kommunistischen Einfluss auch nicht mehr religiös. Koscheres Essen war ihnen fremd, genau wie der Besuch einer Synagoge oder einer jüdischen Organisation.

»Dieser letzte Punkt ist wichtig«, fügte Julia während der unterhaltsamen Debatte hinzu. Sie ist Kulturdezernentin an der Russischen Botschaft in Tel Aviv. »Es spielt keine Rolle, in welchem Exil Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ein neues Leben aufbauen mussten. Russischsprachige jüdische Gemeinden sehen kein Problem darin, jüdisch zu bleiben, ohne religiös zu sein. Für sie ist ihre Sprache der Schlüssel zur russisch-jüdischen Kultur.«

nachkommen Julia kam Anfang der 90er-Jahre als Kind mit ihrer Familie nach Israel. Antisemitische Anfeindungen in ihrem Heimatort waren einer der Beweggründe zur Auswanderung der Eltern. »Trotz des Hasses, den wir als Juden dort oft verspürten, haben wir eine starke Verbindung zur Kultur unserer ehemaligen Heimat, und deshalb ist es ganz normal für uns, diese natürlich auch an unsere Nachkommen weiterzugeben«, er­klärt sie.

»In der Sowjetunion wurden wir als Juden geächtet, hier werden wir als Russen angesehen«, wirft Oleg Levi ein wenig enttäuscht ein. »Wichtig aber ist nur, was man selbst im Herzen fühlt.«

Für viele ist heute Russisch die Verbindung zu ihrem Judentum.

Julia findet, es sei noch zu früh, um den Einfluss der Juden aus der ehemaligen UdSSR auf die amerikanische Kultur mit den jiddischsprachigen Einwanderern vor über 100 Jahren zu vergleichen. »Dies liegt vor allem daran, dass der Kontext in den Gesellschaften, aus denen sie ausschieden und zu denen sie kamen, zu unterschiedlich ist«, meint sie.
»Jiddisch hatte einen großen Einfluss auf die amerikanische Kultur, weil es im Fernsehen, in der Literatur und im Film vertreten war.«

Mit der Zeit könnte Russisch durchaus den Weg des Jiddischen gehen. Als Marc David und seine Familie »Katz’s Delicatessen« wieder verlassen, verabschiedet sich Oleg Levi mit einer Mischung aus Russisch und Jiddisch: »Do swidanija, seids mir gesund!«

Dänemark

Männer sollen 760.000 Euro für die Hamas gesammelt haben

Am Dienstagmorgen nahm die Polizei einen 28-Jährigen fest. Sein mutmaßlicher Komplize sitzt bereits in U-Haft

 05.12.2025

Antisemitismus

Litauen: Chef von Regierungspartei wegen Antisemitismus verurteilt

In Litauen ist der Chef einer Regierungspartei mehrfach durch antisemitische Aussagen aufgefallen. Dafür musste er sich vor Gericht verantworten. Nun haben die Richter ihr Urteil gefällt

 04.12.2025

Ukraine

Alles eine Frage der Herkunft

Wie ein Korruptionsskandal den antisemitischen Narrativen in Russland Vorschub leistet

von Alexander Friedman  04.12.2025

Europa

»Yid Army« im Stadion

Ein neues Buch erklärt, warum Fußballvereine wie Tottenham Hotspur, Austria Wien und Ajax Amsterdam zu »Judenklubs« wurden

von Monty Ott  04.12.2025

Berlin

Prozess um Attentat am Holocaust-Mahnmal fortgesetzt

Das überlebende Opfer, der 31-jährige spanische Tourist Iker M., wollte am Mittwoch persönlich vor dem Kammergericht aussagen

 03.12.2025

Sydney

Jüdische Organisationen prangern »Geißel« Antisemitismus an

Im Fokus steht dieses Mal Australien. Es ist Gastgeber einer Konferenz der internationalen jüdischen Initiative »J7«. Sie stellt Zahlen zu Judenhass auf dem Kontinent vor - und spricht von historischen Höchstständen

von Leticia Witte  02.12.2025

New York

Das sind die Rabbiner in Mamdanis Team

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat Mamdani keinen Ortodoxen in seine Übergangsausschüsse berufen – eine Lücke, die bereits im Wahlkampf sichtbar wurde

 02.12.2025

Italien

Francesca Albanese und ihre »Mahnung« an die Presse

In Turin wurden die Redaktionsräume von »La Stampa« von Demonstranten verwüstet. Die Reaktion der UN-Sonderbeauftragten für die Palästinensergebiete verstörte viele

von Michael Thaidigsmann  02.12.2025

Jüdisches Leben im Libanon

Noch immer hat Beirut eine Synagoge, aber die Gläubigen nehmen ab

Einst war Libanon ihr Zufluchtsort, dann kam der Bürgerkrieg, und viele gingen. Doch nach wie vor gehören Juden zu den 18 anerkannten Religionsgruppen im Libanon - auch wenn nur noch wenige im Land leben

von Andrea Krogmann  02.12.2025