Im »Village«, einem amerikanischen Frühstücks- und Lunchlokal in der Nähe von Schloss Charlottenburg in Berlin, treffen sich Leute, deren wesentliche Eigenschaft hier »open minded« genannt wird: aufgeschlossene Leute also, nicht selten Künstler unterschiedlicher Nationalität.
Für David Friedman (72), den Jazz-Vibrafonisten, der einst mit Leonard Bernstein und Yoko Ono in New Yorker Plattenstudios eine Menge Zeit verbrachte, ist das »Village« längst zu so etwas wie einem Wohnzimmer geworden. In den 80er-Jahren kam er in die Stadt, wo man ihn zum Professor machte. Von Anfang an habe er in Charlottenburg so etwas wie jüdischen Geist empfunden, sagte er einmal dieser Zeitung. Wohl auch deshalb blieb er nach seiner Emeritierung hier. Ein guter Ort also, um jüdische Musikerkollegen aus den USA zum Lunch einzuladen.
Friedman hatte davon erfahren, dass sich Saul Dreier (91) und Reuwen »Ruby« Sosnowicz (87) in Berlin aufhalten. Die beiden Musiker aus Florida treten meist als Duo auf und nennen sich »Holocaust Survivor Band«. Trotz anstrengender Dreharbeiten für einen Videoclip nehmen sie die Einladung ihres berühmten Kollegen an. Es wird zu einer Begegnung auf Augenhöhe.
Biografien Schnell stellen die drei Musiker fest, dass ihre Biografien einige Gemeinsamkeiten aufweisen, allerdings auch Unterschiede. Gemeinsam ist, dass sie als Kinder glaubten, die ganze Welt sei jüdisch. Jedenfalls wuchsen sie in Gegenden auf, in denen nur Juden lebten. Bei David Friedman war das in Roslyn auf Long Island unweit von New York City. Hier wurde er im März 1944 geboren.
Fünf Jahre zuvor waren deutsche Truppen in jene jüdische Schtetl in Polen eingedrungen, in denen Saul und Ruby eine bis dahin unbeschwerte Kindheit verbracht hatten. Im März 1944 wurde Ruby dann im Kuhstall eines polnischen Bauern versteckt und Saul nach den Lagern Plaszow und Auschwitz schließlich in Mauthausen inhaftiert.
Lebhaft erzählt Saul, auf welch ungewöhnliche Art er im Lager zur Musik fand. In einer der Baracken habe ein Kantor mit den Kindern einen Chor gegründet. Der kleine Saul lernte, wie man durch Schlagen mit Löffeln auf ein dickes Holzbrett den Gesang rhythmisch begleitet. Dies sei sein erstes »Schlagzeug« gewesen.
Als Ruby Sosnowicz sich nach der Schoa in einem Lager für Displaced Persons wiederfand, kaufte er ein Akkordeon. Eine gute Investition, wie sich nach der Auswanderung in die USA herausstellte. Er arbeitete als Friseur in Manhattan und verdiente sich ein Zubrot als Partymusiker. Nach einer Weile, so erzählt er mit einem verschmitzten Lächeln, habe er als Akkordeonspieler mehr eingenommen als beim Haareschneiden.
Saul Dreier lebte und arbeitete in jenen Jahren nebenan in New Jersey als Bauunternehmer. Im vorgerückten Alter ließen beide sich dann in Florida nieder, im schönen Boca Raton. Wie sie einander kennenlernten, daran hat jeder seine ganz eigene Erinnerung.
Bandgründung »Vor drei Jahren hörte ich, dass die berühmte Pianistin und Holocaust-Überlebende Alice Herz-Sommer, die mit Musik 110 Jahre alt wurde, gestorben war. Da kam mir die Idee für die Band«, erinnert sich Dreier. »Meine Frau hielt mich für verrückt, und auch der Rabbi fragte, was mir fehle. Das war am Schabbes, und am Montagmorgen wusste ich, was mir fehlt. Ich habe mir ein Schlagzeug gekauft und sah mich nach anderen Überlebenden um.«
»Üblicherweise laufen die heute mit einem Rollator durch die Gegend und spielen nicht Musik«, scherzt Ruby Sosnowicz. »Nun, dass es mich gibt, davon hat Saul von einem gemeinsamen Bekannten erfahren, dessen Sohn ich Akkordeon-Unterricht gegeben hatte. Zu dieser Zeit spielte ich schon lange nicht mehr, denn ich pflegte meine Frau, die mittlerweile leider nicht mehr unter uns weilt. So entstand schließlich aus uns beiden die ›Holocaust Survivor Band‹.«
Saul und Ruby hatten nicht das Privileg wie ihr Gastgeber David Friedman, das renommierte New Yorker »Juilliard«-Konservatorium zu besuchen. Ihr Weg zur Musik hieß »Learning by Doing«.
Schon bald nach der Gründung der Band mit dem ungewöhnlichen Namen vermutete die New York Times, dass dies für das Duo wohl eine Art Katharsis bedeuten müsse. Ruby beschreibt es mit seinen Worten: »Fast mein ganzes Leben lang war es für mich eine Therapie. Wenn ich Musik spiele, spüre ich, dass ich lebe.«
Barmizwa Ob es vorwiegend die jüdische Musik ihrer Kindheit sei, die sie spielen, will David Friedman wissen. »Oh nein!«, ruft Saul. »Wir haben auch ein riesiges Repertoire an spanischer Musik, englischer Musik, Tanzmusik. Haben wir ein jüdisches Publikum, etwa auf einer Hochzeit oder einer Barmizwa, dann spielen wir natürlich jüdische Musik. Haben wir aber ein nichtjüdisches Publikum, dann mischen wir das Repertoire. Und wenn im Publikum Hispanics sitzen, spielen wir mehr südamerikanische Stücke.« Bis zu sechs Musiker würden gelegentlich hinzu engagiert. Die »Holocaust Survivor Band« aber seien nur Ruby und er.
In Berlin standen die beiden kürzlich mit dem israelischen Sänger Gad Elbaz für ein Muisikvideo vor der Kamera. Das klingt außergewöhnlich, sei es aber für sie gar nicht, erklärt Saul. Schließlich habe man schon mit vielen bedeutenden jüdischen Sängern gespielt, mit Dudu Fisher etwa oder mit Lipa Schmeltzer. Das Besondere sei diesmal die Location gewesen: Sie hätten eine Szene am Brandenburger Tor aufgenommen – dort, wo einst die SA mit einem Fackelzug Hitlers Machtübernahme gefeiert habe.
»Ehrlich gesagt, hatte ich zuvor ein wenig Angst«, gesteht Ruby Sosnowicz. »Ich dachte, womöglich könnte einer kommen und sich sagen: ›Diese zwei Typen leben immer noch? Lasst uns dem ein Ende bereiten!‹ Aber ich bin ein gläubiger Mensch. Deshalb habe ich mir gesagt, es wird woanders bestimmt, wie lange ich lebe.«
Mit nachdenklichem Blick sagt Saul Dreier, dessen Idee von der »Holocaust Survivor Band« sein Rabbi einst für meschugge hielt: »Es war ein großartiges Erlebnis. Für mich war das wie ein Gebet für die große Zahl meiner ermordeten Familienmitglieder.«