Kitty Freund spricht klar. Keiner sieht ihr an, dass sie bereits 102 Jahre alt ist. Sie blickt auf die vielen Fotos eines jungen Mannes, die auf den Aktenschränken und Kommoden des Arbeitszimmers ihrer Tochter Erica Duggan stehen. Viele Familienangehörige ihres verstorbenen Mannes, einem jüdischen Flüchtling aus Berlin, fielen dem Nationalsozialismus zum Opfer. Ihr Enkel Jeremiah kam vor zwölf Jahren in Deutschland ums Leben. Es gibt den Verdacht, dass Rechtsextremismus im Spiel war. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass sich all dies in unserer Familie zugetragen hat«, sagt Kitty.
Jeremiah Duggan wollte sich im März 2003 nur kurz in Deutschland aufhalten, um in Wiesbaden an einer Konferenz des Schiller-Instituts teilzunehmen. Der damals 22-jährige junge Mann, der aus dem Norden Londons stammte, studierte zu jener Zeit in Paris. Dort hatte er sich einige Male mit einem Mitglied der mit dem Schiller-Institut vernetzten französischen Gruppe Solidarität und Fortschritt getroffen. Jeremiah Duggan war nicht bekannt, dass sich hinter beiden Organisationen die LaRouche-Gruppe verbirgt.
Die von dem Amerikaner Lyndon LaRouche und seiner deutschen Frau geführte Organisation ist laut dem britischen Rechtsextremismusexperten Matthew Feldman bekannt für ihre zum Teil abstrakten Verschwörungstheorien, viele davon nach altbekanntem antisemitischen Muster. Auch die britische Monarchie und das britische Finanzsystem gehörten zu jenen, vor denen LaRouche oft warnt, so Feldman.
Schoa-Leugner Feldman überrascht es nicht, dass Jeremiah Duggan damals ahnungslos war. LaRouche benutzte sprachliche Tarnbegriffe, die alternativ für Juden stehen. Man müsse schon genau hinsehen, um von deren Kontakten zu Schoa-Leugnern und Mitgliedern des rassistischen Geheimbunds KKK zu erfahren. LaRouche gebe sogar den Anschein, linksgerichtet zu sein, um junge Menschen zu ködern, sagt Feldman. Als Duggan sich während der Konferenz als britischer Jude outete – und das in einer Atmosphäre der Panik, kurz nach Ausbruch des Irakkriegs –, habe das möglicherweise manche Mitglieder in Alarmbereitschaft versetzt, vermutet Feldman. Hinzu käme, erklärt der Historiker, dass die Gruppe bei Neuen oft psychologischen Druck aufbaue, um sie zu brechen.
Immerhin gab es vor Jeremiahs Tod einen verzweifelten Hilferuf, der sein Ausgeliefertsein bestätigen mag. Am Morgen seines Todes rief der junge Mann zweimal bei seiner Mutter in London an. Kurz zuvor sprach er auch mit seiner Freundin. Er stecke in großen Schwierigkeiten, habe Angst und wolle nicht tun, was man von ihm verlange, sagte er und nannte die Organisation, deren Konferenz er besuchte, als Grund für seine Not. Dann endete der Anruf abrupt. Sowohl die Freundin als auch die Mutter verständigten sofort die Polizei.
Doch schon 45 Minuten später wurde Jeremiah auf der Bundesstraße 455 bei Wiesbaden tot aufgefunden. Zwei Zeugen wollen ihn dort vor seinem Tod noch gesehen haben. Aber weder sie noch die Fahrer der Autos, die ihn angeblich angefahren hatten, oder Personen vom Schiller-Institut wurden von der Polizei intensiv überprüft. Laut der Kriminalpolizei in Wiesbaden war es ein klarer Fall: Selbstmord. Der untersuchende Polizeibeamte schloss nach eigener Begutachtung des Leichnams, ohne ihn gerichtsmedizinisch untersuchen zu lassen, dass die Verletzungen zu seiner Annahme passen, der Tote sei einem Unfall mit zwei Fahrzeugen zum Opfer gefallen.
polizei Jeremiahs Eltern Erica und Hugo Duggan reisten noch am selben Tag nach Wiesbaden. Was die Polizei ihnen erklärte, befriedigte sie nicht. Für einen Selbstmord sprach im Falle von Jeremiah weder das psychologische Profil, noch gab es irgendeinen anderen Grund dafür. Die Eltern berichten, dass sie von Anfang an auf viele seltsame Reaktionen und Kommentare gestoßen seien, wie die der damaligen Managerin des Schiller-Instituts, die, ohne gefragt worden zu sein, ganze drei Mal verkündet habe, »dass das Schiller-Institut nicht für die Taten ihrer Mitglieder verantwortlich sei«. Sie habe außerdem behauptet, so die Duggans, dass Jeremiah in einem externen Gästehaus untergebracht gewesen sei, sie aber nicht wüsste, wo das sei. Tatsächlich habe sich Jeremiah in einer Wohnung des Informationschefs der Organisation aufgehalten, will Hugo Duggan erfahren haben.
Später hören die Eltern davon, dass eine Soziologin ein Interview geführt mit der Mutter eines von Lyndon LaRouches Bodyguards hat, der selbst Mitglied der Organisation ist. Er soll gesagt haben, es sei »gut gewesen, dass Duggan starb«, und »dass sie ihn gejagt hätten«. Ähnliches haben die Duggans auch von anonymen Kontaktpersonen erfahren. Doch nicht alle seien bereit, vor Gericht auszusagen.
Gerichtsmedizin Immerhin führte ihr Kampf nach Wahrheit zu einer zweiten gerichtsmedizinischen Untersuchung in England. Vor zwei Wochen urteilte Richter Andrew Walker im Fall Jeremiah Duggan: Es sei kein Selbstmord gewesen, sondern die Ursachen des Todes seien als ungeklärt zu verstehen. Experten hatten zuvor angegeben, dass Duggans Tod etwas mit dem Schiller-Institut zu tun haben müsse, und dass die Verletzungen des jungen Mannes mit größter Wahrscheinlichkeit auf wiederholte Schläge durch einen schweren Gegenstand auf den Kopf zurückzuführen seien. Auch passten die Beschädigungen an den Autos nicht zu einem Zusammenprall mit einem Menschen.
Anhand der Verletzungen sei anzunehmen, so der Richter, dass Duggan vor seinem Tod in eine Art Gefecht verwickelt gewesen sei. Zwar wollte der Richter nicht darauf eingehen, dass Jeremiah unter Umständen schon vor dem Fund seines Leichnams auf der Bundesstraße tot war, also die Unfallszene gestellt gewesen sein könnte. Aber er folgerte, dass »Duggans Kontakt zu einer rechtsextremen Organisation durchaus ein Faktor gewesen sein könnte, der zu seinem Tod geführt hat – zumal er sich als Jude und Brite offenbart und die ihm vorgelegten Materialien hinterfragt hatte«.
Neuprüfung In Wiesbaden hat die Familie ebenfalls eine sogenannte Ermittlungserzwingung erreicht, bei der die Staatsanwaltschaft vom Oberlandesgericht aufgefordert wurde, die Ermittlungen erneut zu prüfen. Jedoch beauftragte die Staatsanwaltschaft mit der Neuprüfung denselben Beamten, der vor zwölf Jahren »Selbstmord« auf die Akte Duggan schrieb.
Hugo Duggan fasst die Erfahrungen, die er über viele Jahre mit den deutschen Ermittlungsbehörden gemacht hat, mit den Worten »zäh, kalt, unkooperativ, langsam und immer wieder voller Fehler« zusammen. Er erzählt, wie sogar Standarddokumente falsch ausgefüllt und abgeschickt wurden. Woran es auch liege, Inkompetenz oder Absicht, es sei alles sonderbar. Der Rechtsextremismusexperte Matthew Feldman erklärt sich die Untätigkeit der Behörden anders: Jeremiah Duggan kam in genau jener Zeit ums Leben, als auch die NSU-Morde geschahen.