Während die letzten Minuten von Rosch Haschana verstrichen, saß der 13-jährige Leo Goldberger zusammen mit seinen Eltern und drei Brüdern in einem Versteck im Gestrüpp am Strand von Dragör, einem kleinen Fischerdorf wenige Kilometer südlich von Kopenhagen. Man schrieb das Jahr 1943, und wie Tausende andere dänische Juden suchten die Goldbergers verzweifelt, einer drohenden Razzia durch die Nazis zu entkommen.
»Nach einer qualvollen, endlos scheinenden Wartezeit erblickten wir das Signal vor der Küste«, erinnerte sich Goldberger später. Seine Familie »marschierte stracks hinaus ins Meer und watete durch das ein Meter tiefe eisige Wasser, bis wir auf ein Fischerboot gehievt wurden. Dort deckte man uns mit stinkenden Segeltüchern zu«. Zitternd und verängstigt, doch voller Dankbarkeit, fand sich Familie Goldberger bald darauf im benachbarten Schweden in Sicherheit und Freiheit.
Jahrelang hatten die alliierten Regierungen betont, dass für die Rettung der Juden vor den Nazi-Häschern nichts getan werden könne, bevor nicht der Krieg gewonnen sei. Doch in einer einzigen, außerordentlichen Nacht verwies das dänische Volk diese Behauptung ins Reich der Legenden und änderte den Lauf der Geschichte. In diesem Herbst ist es 70 Jahre her.
Regierung Als die Nazis das Land im Jahr 1940 besetzten, leisteten die Dänen wenig Widerstand. In der Folge erklärten sich die deutschen Behörden bereit, die dänische Regierung mit einem größeren Maß an Unabhängigkeit als in anderen Ländern weiterarbeiten zu lassen. Und sie verschoben die Verfolgungsmaßnahmen gegen die rund 8000 Juden Dänemarks.
Im Spätsommer 1943 nahmen die Spannungen zwischen dem Besetzungsregime und der dänischen Regierung zu. Die Nazis riefen das Kriegsrecht aus und erklärten, die Zeit sei reif, die dänischen Juden in die Vernichtungslager zu deportieren. Georg Duckwitz, ein deutscher Diplomat in Dänemark, spielte diese Informationen dänischen Freunden zu. Dafür wurde er später von der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« geehrt. Als sich herumsprach, was die Deutschen in Dänemark planten, reagierte die Öffentlichkeit mit landesweiten Aktionen zur Rettung der Juden, an der sich alle Schichten des Volkes beteiligten.
Die bemerkenswerte Reaktion der Dänen gab später Anlass zur Legendenbildung: So soll König Christian X. mit einem Davidstern auf der Brust durch die Straßen von Kopenhagen geritten sein, und auch die Bürger der Stadt trugen angeblich den gelben Stern, um ihre Solidarität mit den Juden zu demonstrieren.
Vielleicht hat die Geschichte ihren Ursprung in einer politischen Karikatur, die 1942 in einer schwedischen Zeitung erschien. Sie zeigte König Christian, der auf einen Davidstern deutet und erklärt, dass wenn die Nazis die Juden in Dänemark zum Tragen des Sterns zwängen, »dann müssen wir alle den Stern tragen«. Der Roman Exodus von Leon Uris und der darauf basierende Spielfilm trugen zur Verbreitung der Legende bei, während nachfolgende historische Untersuchungen zu dem Ergebnis kamen, dass die Geschichte ein Mythos ist.
Kirche An Rosch Haschana – der Feiertag fiel 1943 auf den 30. September und 1. Oktober – sowie an den Tagen danach versteckten dänische christliche Familien Juden in ihren Häusern und auf ihren Höfen und schmuggelten sie spät in der Nacht an die Küste. Dort brachten Fischer die Flüchtlinge über den Öresund ins Nachbarland Schweden. Dänische Kirchenführer riefen von den Kanzeln dazu auf, den Juden zu helfen. Auch Dänemarks Universitäten trugen zum Gelingen der dreiwöchigen Aktion bei: Sie stellten den Lehrbetrieb ein, damit die Studenten die Schmuggler unterstützen konnten. So erreichten mehr als 7000 Juden Schweden, wo sie bis zum Ende des Krieges vor Verfolgung sicher waren.
Esther Finkler wurde in einem Gewächshaus versteckt. Die deutschen Besatzer machten Jagd auf Juden: »Nachts sahen wir, wie Suchscheinwerfer über das Viertel strichen«, erinnerte sich Esther später. An einem Abend sei ein Mitglied des dänischen Widerstands gekommen und habe die Flüchtlinge durch Straßen gefahren, »die voller Nazis waren«, bis zu einem Platz in der Nähe der Küste. Dort versteckten sie sich in einem Schutzraum unter der Erde und danach auf dem Dachboden einer Bäckerei. Kurz darauf wurden sie endlich an einen Strand gebracht, wo sie zusammen mit anderen jüdischen Flüchtlingen an Bord eines kleinen Fischerboots kletterten.
»Neun von uns lagen auf dem Deck oder auf dem Boden darunter«, erzählt Esther. »Der Kapitän deckte uns mit Fischernetzen zu, dann startete er das Boot. Als der Motor zu laufen begann, liefen meine Tränen – die ich bis dahin zurückgehalten hatte.«
Plötzlich drohte Unheil. »Der Kapitän fing an zu singen und zu pfeifen, worüber wir uns wunderten. Bald darauf hörten wir ihn auf Deutsch einem vorbeifahrenden Nazi-Patrouillenboot zurufen: ›Wollen Sie ein Bier haben?‹ – eine clevere Finte, um bei den Deutschen keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Nach drei angespannten Stunden auf dem Meer hörten wir Rufe: ›Steht auf! Steht auf! Und willkommen in Schweden!‹ Es war schwer zu glauben, aber wir waren in Sicherheit. Wir weinten, und die Schweden weinten mit uns, als sie uns an Land brachten. Der Albtraum war vorbei«, erinnert sich Esther.
Roosevelt Die dänische Rettungsaktion fand in den USA starken Widerhall. Lange hatte die Roosevelt-Administration mit Bedauern verkündet, die Juden vor der Nazi-Verfolgung zu retten sei nicht möglich. Die sogenannte Bergson-Gruppe, die sich damals in den USA am aktivsten und lautesten für Hilfsaktionen aussprach und die Roosevelt-Regierung sowie das amerikanisch-jüdische Establishment kritisierte, sah in dem Entkommen der dänischen Juden den Beweis dafür, dass es Wege gab, zahlreiche europäische Juden zu retten – wenn die Alliierten es nur wollten.
Die Bergson-Gruppe schaltete eine Reihe ganzseitiger Zeitungsanzeigen über die dänisch-schwedische Aktion mit der Schlagzeile: »Es lässt sich machen!« Tausende New Yorker strömten am 31. Oktober zu einer von der Bergson-Gruppe veranstalteten Kundgebung in die Carnegie Hall. Das Motto: »Wir verneigen uns vor Schweden und Dänemark«.
Hauptredner waren Kongressabgeordnete, dänische und schwedische Diplomaten und einer der größten Namen Hollywoods: der Regisseur Orson Welles. Zudem war es der Bergson-Gruppe gelungen, Leon Henderson, einen ehemaligen Wirtschaftsberater von Präsident Franklin Delano Roosevelt, als Redner zu gewinnen.
Ohne Umschweife fasste Henderson die Tragödie – und die Hoffnung – zusammen: »Die alliierten Regierungen haben sich der moralischen Feigheit schuldig gemacht. Die Frage der Rettung des jüdischen Volkes in Europa wurde heruntergespielt und mit allen Formen politischen Einflusses abgewehrt. Die Dänen und Schweden haben uns den Weg gezeigt. Wenn dieser Krieg für die Zivilisation geführt wird, dann ist jetzt die Zeit, zivilisiert zu sein!« (JNS.org)