Praktische Auswirkungen auf die Juden in Polen hat das in der Vorwoche verhängte Schächtverbot noch keine. »Es ist nicht schwer, in Warschau koscher zu leben«, sagt Grazyna Pawlak lachend, während ihre rotbraunen Locken durch die Luft fliegen. Sie steht vor dem jüdischen Gemeindehaus in der Twarda-Straße, in der mehrere Organisationen der Gemeinschaft ihre Büros haben. Pawlak leitet die Moses-Schorr-Stiftung und bietet hier Filmabende, Hebräischkurse und Diskussionen an. Die quirlige Mittfünfzigerin deutet nach links. »Diese Tür führt zur Gemeindekantine, die koscheres und sehr günstiges Essen anbietet.«
Ein paar Schritte weiter rechts kommt die gelb gestrichene Nozyk-Synagoge hinter dem Gemeindehaus zum Vorschein. »Im Untergeschoss gibt es einen kleinen Laden mit koscheren Lebensmitteln. Da kaufen viele ihr Fleisch. Ich auch.« Es kursiere aber auch unter den Gemeindemitgliedern eine umfangreiche Liste mit Koscher-Produkten, die man in ganz normalen Supermärkten kaufen könne. Dann weist Pawlak mit ausgestrecktem Arm in die Ferne: »Und da hinten, in der Grzybowska-Straße, ist noch das Restaurant ›Kosher Delight‹, das vor allem vom Catering-Service lebt.«
Seitdem der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, am 12. Juli mit dem Schächtverbot die Religionsfreiheit von Juden und Muslimen eingeschränkt hat, kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Einerseits protestieren jüdische Organisationen in aller Welt gegen die Verletzung des Menschenrechts auf freie Religionsausübung, andererseits wehren sich viele Polen gegen den Vorwurf des Antisemitismus.
Der Schutz der Tiere richte sich zwar gegen Juden und Muslime, behaupten die Schächtgegner, sei aber weder antisemitisch noch islamophob gemeint. Man fordere lediglich Juden und Muslime auf, ihre »barbarischen Religionsrituale« aufzugeben und die »humane« Schlachtmethode der Christen zu übernehmen. Es habe in den letzten zwei Jahrtausenden immerhin einen gewissen Zivilisationsfortschritt gegeben. Dass 1933 auch bereits die Nazis und 1938 polnische Nationalisten ganz genauso argumentierten, wollten viele Tierschützer in Polen bis zum massiven Protest aus dem Ausland nicht wahrhaben.
Vorräte »Als wir Anfang des Jahres erfuhren, dass Juden demnächst vielleicht kein koscheres Fleisch mehr in Polen kaufen können, haben wir Tiefkühlvorräte angelegt«, berichtet Jerzy Lipka, Miteigentümer des »Sklep koszerny« – des »Koscheren Ladens« im Untergeschoss des jüdischen Gotteshaues. Trotz der Lichtstrahler an der Decke wirkt der fensterlose Laden schummrig. Die Augen müssen sich erst an die Kelleratmosphäre gewöhnen. »Wir haben wenig Laufkundschaft«, sagt der kräftig gebaute Mann mit Dreitagebart. »Die wenigsten können sich koschere Produkte leisten. Die meisten essen vegetarisch und kaufen sich nur von Zeit zu Zeit mal ein Stück koscheres Fleisch.« Kunden seien in erster Linie Touristen und Hotels.
Lipka, der auch noch ein Rechnungsbüro betreibt, stellt Konserven mit koscher eingelegten Gurken ins Regal. »Ehrlich gesagt, wir haben noch nicht entschieden, ob wir ab sofort koscheres Fleisch aus Litauen oder dem westlichen Ausland importieren. Das wird ja dann doppelt oder dreimal so teuer wie bisher.« Er stützt die Hand auf einen Karton mit Trockenmilch: »Vielleicht nehmen wir koscheres Fleisch ganz aus dem Programm.«
Druck Während sich Polens religiöse Juden mit den Folgen des Schächtverbots praktisch auseinandersetzen müssen, bemühen sich auf Regierungsebene polnische Politiker, Oberrabbiner Michael Schudrich und die Vorsitzenden des Jüdischen Gemeindebundes, Piotr Kadlcik, und der Muslimischen Religiösen Gemeinschaft, Tomasz Miskiewicz, um Schadensbegrenzung.
Der Druck aus dem Ausland ist groß. Nicht nur Israels Regierung und die Knesset reagierten scharf auf die Einschränkung der Religionsfreiheit für Juden in Polen, auch zahlreiche jüdische Organisationen schickten Protestbriefe an Polens Regierung. Demnächst soll auch das Europäische Parlament zu dem Fall Stellung nehmen. »Es ist gut und schön, an die jüdische Geschichte in Polen mit Museen und Denkmälern zu erinnern,« kritisierte Serge Cwajgenbaum vom Europäischen Jüdischen Kongress, »allerdings möchten wir auch heute gerne als Juden in Polen leben.«
Michael Boni, der auch für nationale und religiöse Minderheiten zuständige Minister, kündigte an, er werde das Verfassungsgericht anrufen. Die Rechtslage sei nicht klar, da es nun zwei Gesetze gebe, die einander widersprächen. Das eine erlaube der jüdischen religiösen Minderheit, sich um das Schächten »zu kümmern«, was einige Juristen als einen Rechtsanspruch auslegen. Das Tierschutzgesetz hingegen verbiete genau dies und lasse auch keinen Rechtsanspruch als Ausnahme zu. Wann das Verfassungsgericht frühestens über den Fall entscheidet, sei noch nicht klar. Polens Abgeordnete haben bereits angekündigt, sich nicht erneut mit dem Schächtverbot auseinandersetzen zu wollen.
Pinhas Etziony, der seit 2006 die Restaurantkette »Kosher Delight« in Polen betreibt, versteht die polnischen Abgeordneten nicht mehr. »Polen ist eines der Hauptziele des jüdischen Tourismus. Es kommen weltliche Juden, für die koscheres Essen keine Rolle spielt, aber auch religiöse Gruppen, für die die Einhaltung der Kaschrut von eminenter Bedeutung ist.«
Koscheres Fleisch aus Polen habe weltweit einen guten Ruf. Dieses Herkunftssiegel »Made in Poland« werde das Land verlieren. »Wir nehmen koscheres Fleisch nicht aus dem Angebot, werden es aber künftig aus dem Ausland importieren, wahrscheinlich aus Belgien«, erklärt Etziony. Polens Politiker hätten es sich selbst zuzuschreiben, wenn das Etikett »teures Essen« bei religiösen Juden im Land durch antijüdische Gesetzgebung demnächst negative Assoziationen wecke.